Ein kurzer Abriß meines Lebens?
[25.08.19 / 13:22] ✎ Ein kurzer Abriß meines Lebens? Frisch aus der Psychiatrie entlassen, Arbeit hingeschmissen, von Ex-Freund getrennt - alles wieder auf Reset. Das Wochenende in einem Kaff irgendwo in der Provinz von Sachsen-Anhalt, in welchen ich meine Schulzeit bis zum Abitur verbracht habe, ein Stadtfest mit angeschlossenen Trödelmarkt. Der Händler, den ich den Abend entdecke, hat eine exquisite Auswahl an Schallplatten aus den Achtzigern, Rock, Metal, Glam und Gothic. Ich ziehe aus der Plattenkiste eine LP, vergleiche meinen Fund mit der Diskographie-Datenbank im Internet auf meinem Smartphone ... "Wow", das 83'er Erstalbum von Siglo XX (in Erinnerung - die "belgischen" Joy Division). Vorsichtig trage ich meinen Neukauf danach durch die angetrunkene Partymenge, ohne angerempelt zu werden.
Wenig später an einer improvisiert zusammengezimmerten Bar neben einer Bühne mit Live-Musik und DJ-Set, der Barkeeper gibt mir einen Chai mit einem Schuß Rum aus. "Aber ich will doch nur ein Glas Wasser bestellen", vorsichtig nippe ich die nächste Stunde bis nach Mitternacht an meinem Pfandbecher mit dem alkoholischen 0.2cl-Gesöff - im ständigen Wechsel zu meinem Glas Wasser ... ich darf nicht betrunken werden, ich muß doch noch irgendwie meine kostbare Vinyl-Schallplatte durch die Nacht nach Hause bekommen. Ich setze mich auf eine Bank am Rand, neben der Bar und beobachte die feiernden Menschen ... bekannte Gesichter von früher entdecke ich nicht - die würden mich auch nicht mehr wiedererkennen. Hey ich bin's, jetzt neu, mit Titten!
Sonntag Mittag, total verkatert, mit rauer Stimme und einem schlechten Gewissen, wache ich wieder auf. Ich habe meine zerbrechliche Schallplatte unversehrt nach Hause tragen können. Mit dem halben Gläschen Rum ist mein Alkohol-Kontingent für mindestens die nächsten zwei Jahre ausgeschöpft (so sehr an die alten Zeiten mit Filmriß und Kotzen werde ich nicht mehr anknüpfen).
Ich muß den Tag noch die Liste mit meinen Bewerbungen die letzten Wochen für den Termin morgen beim Arbeitsamt vorbereiten. Die letzte Woche war ich auf Tournee mit Bewerbungsgesprächen ... mein Outfit: keine Schuhe mit Absätzen, kein Rock oder Kleid, kein Schmuck, keine Kontaktlinsen, nur ich in Schwarz mit Jeans, Polohemd, Brille und Haare streng nach hinten gebunden. Ich vermeide alle weiblichen Akzente bei den Gesprächen in der Ingenieursbranche. Auch das bringt keinen Erfolg. Die einen schreiben mir gleich eine Absage auf meine Bewerbung, die anderen brauchen noch das persönliche Gespräch, bevor sie mir wenige Tage später die Antwort übersenden. Es geht mir nur noch darum, ein Jahr lang "die Kohle abzugreifen" und danach etwas vollkommen anderes zu machen, das mit dem "Ingenieur-Dings" habe ich für mich innerlich schon längst aufgegeben. Aber für das Arbeitsamt (für die ich als "unvermittelbar" gelte) muß der Schein noch aufrecht erhalten bleiben.
[05.08.19 / 01:31] ✎ Die ersten ein oder zwei Tage dachte ich noch, ich steck das ganz gut weg - aber die weiteren Tage der Woche hänge ich permanent mit meinen Gedanken in diesem Moment fest, das Bild in meinem Kopf, wie er mit seinem vollen Gewicht auf mir liegt, mich fast zerdrückt, meine Luft zum Atmen raubt - und sich mit Gewalt da unten reinzwängt. Die Schmerzen, die Tränen ... weine ich oder beobachte ich, wie mein Körper weint? You don't understand this, but you really hurt me physically. [...] I won't let you get close to me anymore. Mein nächster Termin bei meiner Frauenärztin ist den nächsten Montag, aber ich glaube nicht, daß man da bei mir etwas sieht ... eine kleine Rötung an einer Nahtstelle am Eingang meiner Scheide, aber keine blauen Flecken oder ähnliches. Würde ich ihn anzeigen wollen, ich könnte ihm überhaupt nichts nachweisen.
Sonnabend Mittag, so ein klares Bild habe ich noch nie zuvor im Kaffeesatz gesehen: Eine äußerst hübsche Frau ... sie steigt empor, aus dem sie umgebenden Feuer oder der Asche, kämpferisch, mit erhobenen Hauptes! Das gibt mir Kraft und Mut. Ich mache ganz normal weiter und werde auch diese Nacht wieder ausgehen. Meine neue Bekanntschaft vom letzten Wochenende hat mich den Freitag Abend zuvor für ein paar Minuten in meiner Wohnung besucht, ich habe ihm eine ziemlich präzise Wegbeschreibung gegeben: Das Hinterhaus bei dem verlassenen Konsum, die Gegend im düsteren Nirgendwo. Der Hauseingang ist aufgebrochen (war mein Ex-Freund), die Treppe nach ganz oben hinten. Leider hat er für den Sonnabend Abend schon etwas vor und ich muß die kommende Nacht alleine ausgehen.
Sonnabend Abend, ein paar Stunden später vor dem Spiegel in meinem Badezimmer, alles wie gewohnt, Feuchtigkeitscreme, Kajal, Mascara, kein Lippenstift (der landet in der Tasche für später), diesmal wieder Chanel-Parfüm. Mein Outfit entspricht dem vom letzten Wochenende - ein neues, frisches, schwarzes Top, den dezenten Push-up darunter, meine schwarze Kunstlederleggings und die einzig dazu passenden Pikes-Stiefeletten mit den kubanischen Absätzen. Der gleiche Silberschmuck wie immer. Den etwas kühler gewordenen Außentemperaturen draußen vor meiner Wohnung entsprechend, werfe ich mich in meinen schwarzen Kapuzenpullover.
Über einen Umweg gegen halb Zehn den Abend zu dem italienischen Schnellrestaurant in der Leipziger Innenstadt, Pasta essen (ich hatte nicht beachtet, daß die immer soviel Knoblauch mit da rein geben), in dem Waschraum des Restaurants den Lippenstift nachziehen und weiter zu dem Club für diese Nacht ganz in der Nähe. Ich parke mein Auto in der Seitenstraße. Das letzte Mal war ich hier die Nacht kurz vor meiner Korrekturoperation zweieinhalb Monate zuvor ... vielleicht treffe ich wieder den einen Mann, mit dem ich dann die Nacht zusammen in meiner Wohnung verbracht hatte? Ich hoffe es.
Als ich den Club mit der Gothic-Tanzveranstaltung kurz vor oder nach halb Elf betrete, gehöre ich noch zu den ersten Gästen. Flyer am Eingang einsammeln, an der Bar ein Getränk bestellen, das Wechselgeld und meinen Pullover unten in der Garderobe gegen eine Kleidermarke eintauschen und weiter den Club erkunden. Die große Tanzfläche ist anders aufgeteilt, die Sitzecke ist nach hinten verschwunden, die ehemalige Bar dort befindet sich jetzt vorne neben der anderen, kleinen Tanzfläche in dem engen Kellerraum. Auch diese Nacht wieder zwei Floors zum Tanzen, aber die Musik der beiden DJ-Teams unterscheidet sich nicht ganz so stark ... nur feine Nuancen (die eine ist mehr gitarrenlastiger Wave, die andere Minimal-Elektronisch-Wave). Könnte interessant werden ... wieder diese hübsche Dekoration mit den Styropor-Grabsteinen - und es gibt sogar ein aufgebautes Obst-Buffet! (Jedes Mal, wenn ich die Nacht daran vorbei gehen werde, plündere ich ein weiteres Stück.)
Die ersten ein oder zwei Stunden sitze ich auf dem Ledersofa neben der großen Tanzfläche, lasse die Szenerie auf mich wirken, die bunten und tanzenden Lichter auf der Tanzfläche, die Musik. Anders als die Spotify-Playlist oben im Bar-Bereich mit den üblichen Verdächtigen, legt die DJane hier unten mir vollkommen unbekannte Stücke auf. Leider hänge ich immer noch in meinen Gedanken bei meinem Trauma fest, zwinge mich ständig zu einem laut ausgesprochen: "Gedankenstop!" Hoffentlich gibt sich das irgendwann.
Zurück oben auf der dunkelsten Toilette, die ich jemals besucht habe: Schwarze Wände, schwarze Türen, schwarze Klobrille - und keine elektrische Beleuchtung, Absicht? Im Schein der flackernden Kerzen, versuche ich die Toilette zu ertasten ... so sehe ich wenigstens nicht, wenn gegen Morgen das ganze Interieur "weniger ästhetisch" aussieht. Weiter zur Bartheke, ein weiteres Getränk, eine Runde durch die Kellergewölbe, drei Titel tanzen. Ganz allmählich, langsam füllt sich der Club mit dem illustren, schwarzen Szenepublikum.
Es muß so nach Mitternacht oder gegen 1 Uhr sein, als ich bei einer weiteren Clubrunde oben an der Theke auf ein mir bekanntes Gesicht treffe - er ist es!
"Hallo, wie geht's, auch hier?"
Ja, natürlich. "Bist du mit Anhang hier?"
Er umgibt sich mit den gleichen mir bekannten Gesichtern vom letzten Mal zweieinhalb Monate zuvor - und er ist mit ein paar weiteren Bekannten da. Eigentlich wollte ich an der Bar nur eine Flasche Wasser holen und dann wieder runter gehen, tanzen, aber ich bleibe für ein längeres Gespräch neben ihm an der Bar.
"Sind deine Brüste größer geworden?"
Nein, das ist ein Push-up ... ich hoffe auf eine weitere Nacht mit ihm.
Wir beobachten die Gäste, er schaut sich die hübsch zurechtgemachten, weiblichen Besucherinnen an, ich achte eher auf die Schuhe, die Handtasche, die Kleider (ich hatte überlegt, für diese Nacht eine mehr praktischere, schwarze Tasche mit Karabiner an meinem Nietengürtel zu befestigen). Seine Begleitung sind eine junge Frau und drei an ihr interessierte, ältere Männer ... zu interessant, das zu beobachten. Wir werden gleichfalls von ihnen beobachtet, was da vielleicht zwischen uns laufen könnte. Ich werde von ihm in die Gothic-Szene der Partygänger um die 50 eingeführt - deswegen mag ich diese Veranstaltung so, ich treffe hier mit meinem Alter die Mitte.
"Ich kann mich nur mit Frauen unterhalten, wenn ich Alkohol trinke."
"Du mußt die Mitte treffen, nicht zuviel."
Bei dem Thema bin ich vorsichtig.
"Hast du Lust nachher noch etwas zu machen?"
Genau deswegen stehe ich neben dir.
"Du mußt nicht die ganze Zeit neben mir sein, du kannst auch mal Tanzen gehen."
Vorsicht ... wenn ich zu aufdringlich und zu verzweifelt wirke, verspiele ich alle meine weiblichen Reize.
Ich gehe wieder runter auf die Tanzfläche, tanze drei weitere Titel, hole mir ein neues Getränk unten an der Bar, drehe die Kurve über das Obst-Buffet und bin danach wieder oben bei ihm. Wir setzen uns auf ein Sofa in der Lounge und beobachten weiter die Gäste. Die Spotify-Playlist dreht sich ... "Type O Negative - All Hallows Eve", "Bauhaus - Bela Lugosi's Dead", "Danse Society - We're So Happy", "The Cure - Lullaby / The Hanging Garden / The Figurehead", "Christian Death - Romeo's Distress", "Skeletal Family - So Sure", "Sex Gang Children - Dieche / Sebastiane", "Siouxsie And The Banshees - Happy House / Overground / (?)".
"Weißt du wie spät es ist?"
"Keine Ahnung", ich krame jetzt nicht mein Telefon aus der Handtasche, "Aber die Playlist hier oben geht gefühlt eine Stunde, wenn wir zum vierten oder fünften Mal 'Type O Negative' hören, müßte es gegen Drei Uhr den Morgen sein."
Er wird sichtbar müde.
"Ich glaube, ich werde dann auch mal irgendwann demnächst gehen."
Du nimmst mich doch mit oder? "Und ... gehst du alleine?"
"Ja."
Mist.
"Du kannst ruhig nochmal Tanzen gehen."
Ich laufe ein weiteres Mal meine Runde durch den Club, tanze auf beiden Tanzflächen ein paar Titel, lasse das Gespräch mit ihm in meinen Gedanken Revue passieren. Die letzten Stunden hatte ich mein Trauma erfolgreich verdrängen können ... wenn jetzt noch etwas mit ihm läuft, dann bin ich wieder normal und habe keinerlei psychische Folgeschäden davon getragen und kann ganz einfach weiter Sex und intime Körpernähe mit anderen Männern zulassen.
Als ich wieder oben bin, sehe ich, daß er verschwunden ist. Auf dem Sofa sitzt jetzt ein anderes Pärchen. Ich suche in dem Club nach ihm, unten, oben, an der Garderobe, draußen vor dem Eingang. Er ist weg, er ist wirklich gegangen. Die drei Männer und die junge Frau, mit denen er den Club betreten hat, sind aber immer noch da. Wahrscheinlich hat er seinen Plan umgesetzt, irgendwo in der Nähe etwas zu essen, die Schnellrestaurants am Hauptbahnhof sind am Wochenende rund um die Uhr geöffnet und ein beliebtes Ziel für die Nachtschwärmer den frühen Sonntag Morgen ... wir kamen kurz auf das Thema, dort kann man "Chocolate Cookies" essen und einen Kaffee trinken. Wenn er wirklich in diese Richtung gegangen ist, trinkt er den Kaffee dort jetzt alleine ohne mich. Alles kann, nichts muß. Dann eben nicht.
Bis 5 Uhr den Sonntag Morgen tanze ich weiter, bis ich so kaputt bin, daß ich auch gehen will. Eine letzte Flasche Wasser für die Nacht an der Bar, ein weiteres Mal auf die düstere Toilette - die jetzt doch noch mit spärlichen LED-Lämpchen beleuchtet wird - und ich hole auf dem Weg nach draußen meinen Pullover an der Garderobe ab. Die Kapuze weit in das Gesicht gezogen, die Hände in der großen Bauchtasche, die paar Meter in der bläulich grau bewölkten Morgendämmerung zurück zu meinem geparkten Auto. Die Clubs rund um den Hauptbahnhof sind immer noch gut besucht, ich sehe die jungen Menschen davor, als ich mit meinem Auto daran vorbeifahre. Zurück zu meiner Wohnung.
Ein freier Parkplatz gegenüber vom Hauseingang macht es einfacher, innerhalb weniger Minuten und dem Abschminken vor dem Badezimmerspiegel kurz vor 6 Uhr den Sonntag Morgen im Bett zu landen ... genau dieses eine Bett, in dem alles geschehen ist. Ich hatte Angst, ob ich hier drin noch schlafen kann. Ich mußte meine Wohnung ausräuchern, mit nepalesischen Räucherstäbchen die negativen emotionalen Schwingungen vertreiben, ein Mantra abspielen, mein Bett "heilen". "Du bist so wie ich, du bist mein Bett, was dir angetan wurde, wurde auch mir angetan. Gemeinsam gehen wir stärker aus dieser Sache hervor." Ich schlafe ein ... Gedanken vertreiben.