[23.10.23 / 01:09]✎ Alte Fotos, neu bearbeitet. Die letzten Wochen, das Motorrad steht seit der Harztour Anfang September in der Garage, meine „zwischenmenschlichen“ Kontakte beschränken sich auf vielleicht mal ein eineinhalbstündiges Videotelefonat, die Sommermonate zuvor habe ich viel zu viel Geld ausgegeben – ich muss dringend ein oder zwei „Sparmonate“ einlegen, bevor ich mit der nächsten Reise mein Konto wieder weit ins rote Minus stürze. Zeit genug, ein paar nächtliche und einsame Computer-Wochenenden einzulegen.
Ein lange gehegter Wunsch, meine alten Digitalfotos von vor fünfzehn oder zwanzig Jahren etwas aufzuwerten, mit höherer Auflösung und mehr Details, meinen aktuellen Fotos in der Web-Galerie angepasst. Die Fotos liegen digital auf der Festplatte – nur die Schritte, wie ich sie damals mit Photoshop bearbeitet hatte, kann ich nicht mehr nachvollziehen … Retuschepinsel, Nachbelichtung, Hochpassfilter und Scharfzeichner. Ich werde sie nie zu hundert Prozent originalgetreu rekonstruieren können, es gibt keine Aufzeichnungen oder Notizen. Reverse Engineering. Ich habe ein Skript geschrieben, welches mir innerhalb ein, zwei Stunden über vierzigtausend unterschiedliche Bilder-Variationen an Helligkeit und Kontrast in einen Ordner schaufelt und mir hinterher eine Liste präsentiert, aus der ich das am nächsten am Original dran liegende Ergebnis ablesen kann. Auf das alte Foto im Rohformat angewendet und mit der ursprünglich vorgesehenen Auflösung neu gespeichert. Warum habe ich sie damals verkleinert? Vielleicht weil die schweren Röhrenmonitore auf meinem wackeligen Computertisch in meinem alten Dachbodenzimmer (das ich jetzt nicht mehr bewohne) dafür nicht ausgelegt waren. Und jetzt sind sie hier in meinem Blog: neu „remastered“:
08/2003 – Das „suicide tgirl“ betritt die Bühne.
06/2004 – Die Comtesse verliert ihre zweite Unschuld.
11/2004 – Ihr Herz zersprang bald in tausend Eiskristalle.
11/2005 – Tiefste Finsternis umgab sie. (3x)
01/2006 – Rückkehr in ein verborgenes Leben. (2x)
01/2007 - Die vielen Nächte unterwegs nach Leipzig.
06/2007 – Unsere Langzeitstudentin an ihrem Fluchtpunkt.
Weitere Bilder folgen die nächsten Tage … (10/10)
[02.09.23 / 23:27]✎ Das vergangene Wochenende in Kassel – ein kleines Gothic-Festival. An zwei Abende je drei Bands aus Italien, eine davon wollte ich schon immer mal live sehen, an meiner alten Lederjacke hing viele Jahre lang ein selbstgemalter Patch von denen … sie waren damals Mitte der Neunziger legendär (und es gab bestimmt nur drei italienische Gothic-Bands, wenn überhaupt). Alles, was ich die zwei Nächte trage und brauche, habe ich an. In meiner Tragetasche über der Schulter findet sich nur noch mein Waschzeug für das Hotel – und meine schwarze Tunika, die mit den langen und weiten Ärmeln.
Der Regionalzug nach Kassel ist übervoll, mein Plan, schon in Halle einzusteigen, ging leider nicht auf. Der Zug aus Magdeburg hatte Verspätung und die wenigen allerletzten Minuten zum Umsteigen reichen nur für einen Stehplatz im beengten Fahrradabteil. Ganze orientalische Großfamilien fahren damit quer durch Deutschland (die Frauen mit den bunten Kopftüchern haben immer die hübschesten Schuhe an). Die nächsten zwei oder drei Stunden, niemand steigt aus, niemand steigt ein – und wenn doch, rutschen alle noch etwas enger zusammen. Ich wechsele meinen Arm ab, mit dem ich mich an einer Stange festhalte. Draußen vor dem Fenster rauscht das Kyffhäusergebirge an mir vorbei. Nächstes Mal nehme ich das Motorrad, ganz sicher.
Kassel, Freitag Nachmittag, über dem Bahnhof hängt ein Gewitter. „Tee-Wetter“, die paar Meter zum Hotel laufe ich nicht im Regen, ich esse erst ein Stück Kuchen und bestelle eine Tasse Tee bei einem Bäcker in der Passage daneben.
Im Hotel, keine Zeit zum Entspannen, eine Dusche, mein Parfüm, die Tunika übergezogen – schwarze Jeans und Pikes trage ich bereits – Kajal, Mascara, meine Lederjacke und raus in die Innenstadt, etwas essen und weiter zu dem „anderen“ Bahnhof. Die italienische Pasta war aber auch lecker – speziell die Gorgonzola-Sauce – als ich das kleine Festivalgelände erreiche, spielt auf der Bühne in der kleinen Halle die erste Band gerade ihre letzten Titel. Trotzdem gesehen. Gleich klatschen. Es ist noch heiß von den letzten Sommertagen in dem Gebäude … genauso, wie das Hotelzimmer.
Die erste Band – Gothic. Die zweite Band – auch Gothic, vielleicht weniger „sperrig“ als die erste Band (aber 'ne hübsche Sängerin – ich darf das denken). Zwischendurch raus vor das Gebäude neben den Abstellgleisen, am Stand etwas trinken – nur Wasser für mich. Ich bin hier nur, wegen der dritten Band.
Als sie auftreten, die mystische Aura, der Gitarrist aus der Ursprungsformation ist alt geworden … die Band hat irgendwann, vor über zwanzig Jahren, ihre Bandmitglieder und den letzten Buchstaben ihres Bandnamens verloren. Die zweite Inkarnation dieser Band mit der Sängerin, hat mich nie so richtig angesprochen. Zurück in der Zeit, Anfang der Zweitausender, ich grase die ganzen Sharehoster im Internet nach obskuren Platten- und Kassettenaufnahmen von noch obskureren Bands ab, um sie in meine Playlist für mein Internetradio einzubauen – und da bin ich dieser Band begegnet. Jetzt auf diesem Konzert, laufen über der großen Leinwand hinter der Bühne die alten VHS-Aufnahmen von den Kunstperformances damals. Ich bin ergriffen.
Nach dem Konzert stehe ich draußen vor dem Merchandise-Stand und überlege, ob ich mir die neu aufgelegte Schallplatte mit den alten Aufnahmen kaufe … hier hat die Band auch wieder ihr altes Logo mit dem letzten Buchstaben. Aber die Enge in dem Zugabteil und meine nur leichte Tasche (im Hotel) lassen meine Entscheidung negativ ausfallen. Den schwarzen Stoffbeutel für quadratische Vinyl-Cover habe ich auch nicht dabei. Gedanken … wenn er, der Gitarrist schon so alt geworden ist und ich die Band seit achtzehn oder neunzehn Jahren bewundere … bin ich dann auch so alt? Glücklicherweise begegnen mir im Publikum noch ein paar „Ur-Grufts“ der zweiten Generation (die Ende der Achtziger) und lassen mich schnell wieder jung erscheinen. Trotzdem … ich nehme den Nachtbus um zwei Uhr zurück ins Hotel, ich will nicht bis morgens durchmachen.
Ein vernünftiger Ansatz, aber … das heiße Zimmer, zurück im Hotel, das überaus sperrige Kopfkissen, das weit geöffnete Fenster – mache ich es zu, wenn es jederzeit wieder regnen und gewittern könnte? Ich habe auch noch Ohrstöpsel drin. Um sechs Uhr den Sonnabend Morgen stehe ich indes unten an der Rezeption und warte auf das Frühstück. Wenn ich schon nicht schlafen kann, dann ziehe ich es vor – anders als der Plan, den Wecker auf kurz vor zehn Uhr zu stellen, um ja nicht das üppige und bezahlte Frühstücksbuffet zu verpassen. Präzise 6:27 Uhr – noch drei Minuten bis zur Eröffnung – und zwei andere Gäste schieben sich aus dem Nichts davor und ruinieren meinen Moment, ein unberührtes Buffet vorzufinden. Ich schlage zu, ich esse alles. Mini-Croissant, Mini-Brötchen, Obst, Margarine, Marmelade, Nuss-Nougat-Creme, Danish Rolls und Vanille-Pudding-Teig-Plunder – und zwei Gläser Saft, aber keinen Kaffee. Den hebe ich mir für nach zwölf Uhr mittags auf, wenn ich nach ein paar wenigen Stunden Schlaf doch wieder aus dem runtergekühlten Hotelzimmer falle.
Der Sonnabend. Vorbei an den vielen Schaufensterscheiben mit dem großen „Sale“ Angeboten. Hier „50%“ da „70%“. Eigentlich ist mein schmales Budget sehr begrenzt (es hat nur für den Regionalzug gereicht), aber ich kann nicht widerstehen … der Schuhladen in der Kasseler Innenstadt veranstaltet einen Räumungsverkauf. Das runtergesetzte Paar Pantoletten mit Flip-Flop-Akzentuierung landet in einer großen Einkaufstüte. Auch wenn der Sommer fast vorbei ist – diese Schuhe werden meine „Frühstücksschuhe“, wenn ich in ein paar Monaten damit runter in die Hotel-Lobby gehe. Auch das Hotel, in dem ich aktuell nächtige, werde ich gleich meine neuen Schuhe ausprobieren, später dann, den nächsten Morgen zum Sonntagsfrühstück.
Weiter durch die Innenstadt, ein Café, ein Italiener. Eine überaus ölige und original schwere Pizza in einem italienischen Ristorante – ich sitze draußen in Schwarz, meine große Sonnenbrille sagt alles. Weiter das Kaffee suchen, ich habe die Empfehlung falsch verstanden, ich wollte ein Café mit gutem Kuchen. Gefunden habe ich ein Kaffee mit Schwerpunkt auf … Kaffee. Ein großer Cappuccino an einem Tisch draußen. Die Gegend und die Leute beobachten. Kassel ist anders, ich bin das aus der tiefsten Ostprovinz nicht so gewohnt … die vielen „Südländer“.
Zurück den Nachmittag mit der Straßenbahn zum Hotel, derselbe Ablauf wie den Tag zuvor, mein Gothic-Outfit wechseln. Patchouli und Silberschmuck. Kette, Ring, Armreif und Armband – die beiden aus Tunesien und Marrakesch. Meine seit sechs Wochen schwarz lackierten Fingernägel (mit Glitzer) sind schon dreimal nachlackiert. Zurück zu genau dem Platz mit dem Kaffee – jetzt aber schräg gegenüber die Imbissbude mit einer großen Portion „Fritten“ – auch wieder eine Restaurantempfehlung aus meinem familiären Umkreis (ich bin das Wochenende nicht alleine unterwegs).
Zu Fuß die Straßen durch die Innenstadt zu dem Bahnhofsgelände, der zweite Festivalabend hinten an dem Abstellgleis. Wieder drei Bands, von der ich nur den Headliner kenne. Die erste Band – Italiener, wie alle Bands dieses Wochenendes – ältere Herren mit Reminiszenzen an so Bands wie „Bauhaus“, „Sisters“ und die „Fields“. Kompromissloser Gothic-Rock. Es sind wesentlich mehr Festivalgäste gekommen, als den Abend zuvor. Die zweite Band – eigentlich ist es nur ein älterer Mann, kaum zu glauben, dass er schon seit 1978 dabei sein soll und die Ursprünge des Punk noch kennengelernt hat. Seine unschuldige und jugendliche Art, das Publikum anzusprechen, machen ihn viel mehr jünger. Er performt an seinen Synthesizern und Drumcomputern und singt – erzählt seine italienischen Texte. Ich versuche mit meinem begrenzten Sprachwortschatz, etwas zu verstehen. Es reicht, um nicht die ganze Zeit im Publikum zu tanzen und um darüber nachzudenken: Moment, habe ich das da gerade richtig verstanden? Düsteres Zeug.
Und es wird noch viel mehr finster. Die dritte Band – ich muss sie schon vor zig Jahren mal Pfingsten in Leipzig gesehen haben. Der Sänger, der auch nicht jünger geworden ist, spricht seine Texte sehr deutlich ins Mikrofon. Dinge, die nur Italiener verstehen können, ein erzkonservatives und katholisches Land. Es musste solche Gothic-Bands hervorbringen, um das alles zu verarbeiten. Das Thema zieht sich durch den ganzen Auftritt, die Zugabe – mit ihm alleine – artet in eine sperrige Performance aus. Nur mir fällt auf, dass das das erste Factory-Preset auf dem Korg-Synthesizer ist – genau dieses Modell habe ich auch.
Danach die Disko, die DJs der letzten Nacht waren wirklich gut, interessantes Zeug, das ich gar nicht kannte, oder erfrischende Cover-Versionen oder Remixe alter Goth-Klassiker. Die DJs den zweiten Abend … nett, aber wenn ich die Playlist in Gedanken mitschreiben kann – es sind auch meine Lieblingssongs (mit einstudierter Tanzperformance). Dennoch, ich bleibe auch die zweite Nacht nicht lange und will wieder den Zwei-Uhr-Nachtbus von dem einen Bahnhof zurück zu dem anderen Bahnhof nehmen, um spätestens drei Uhr nach Mitternacht ins Bett zu fallen. Der Bus an der Bushaltestelle fährt an mir vorbei … ich bin zu schwarz und dunkel angezogen? Ein Taxi am Taxistand daneben: „Folgen Sie dem Bus!“ Ich wollte schon immer mal so etwas Aufregendes sagen. Der Taxifahrer hängt sich dahinter und nimmt irgendwann eine Abkürzung und ich komme noch vor dem Bus an meinem Ausstiegsort an. Trinkgeld und mein Restbudget für dieses Wochenende ist aufgebraucht.
Zurück im Hotelzimmer, für das Mascara habe ich mir wieder neue Abschminktücher aus der Bahnhofsdrogerie geholt. „Entfernt zu 99% wasserfestes Augen-Make-up“, ohne Alkohol. Der Room-Service hat mir netterweise ein weicheres Kopfkissen zurecht gelegt, dafür habe ich unten an der Lobby auch alle anderen Mängel aufgezählt (verdammte Arbeit als Tester). Ein wenig schlafen, ein paar Stunden. Später dann den Sonntag Vormittag, viel Zeit zum frühstücken (meine neuen Schuhe), alles zusammenpacken (ich habe ja nicht viel dabei), auschecken und die paar Schritte zurück zum Bahnhof.
Und auch der Zug am Sonntag ist voll … mehr als voll. So viele Menschen, so viele unterschiedliche Festivals, so viel Interessantes unterwegs. Hier eine Anime-Manga-Con, da ein Indie-Festival, dort ein paar Metaler. Ich ergattere mir schnell einen Sitzplatz und werfe aus einem Meter Entfernung meine Jacke und meine Tasche darauf, es war wahrscheinlich der letzte noch freie Sitzplatz in dem gesamten Zug. „Ich stehe nicht schon wieder die gesamte Fahrt!“ Die Menschen, die ich wieder mit Blick ins Fahrradabteil sehe, tun mir leid … diese quälend langen Stunden. In den Zwischenhalten, zwischen Kassel und Halle, steigen noch mehr ein, ein Festival an einem Stausee, mit Schlafsack und Isomatte. Es wird bizarr, sie „campen“ auf den Gängen zwischen den Sitzen, wer zur Toilette hin und zurück will, muss einen Weg „darüber“ finden. Ich starre die Decke an. Zurück in mein Heimatkaff.
[21.08.23 / 00:52]✎ Mein Plan: Ich mache das so, wie in Leipzig vor ein paar Wochen, dieselbe Temperatur, derselbe Ablauf. Das Fest mit der Bühne und den Ständen lasse ich sein, nach der Demoroute zurück ins Hotel, eine Dusche nehmen und wieder ausgehfertig für die Nacht zur großen Abschlussparty machen. Nur dass ich hier kein Hotel brauche, ich nehme einfach den nächsten Regionalzug den Nachmittag zurück in meine Provinz-Kleinstadt und Wohnung. Mehrere Runden noch in der Hitze durch die aufgebauten Stände … der Stand mit den Flaggen hat leider keine Progress-Regenbogenflagge mehr, ich will auch so eine an meinem Fenster draußen zur Straßenseite aufhängen (gesehen das letzte Wochenende in Leipzig, im Wind wackelnd von dem Tisch von der Bar aus, mit meinem „Date“). Es ist noch Zeit am Hauptbahnhof, für ein Stück Kuchen und eine weitere Flasche Wasser (ganz wichtig). Essen war ich schon vorher, Falafel Döner.
Mein Badezimmer oben auf dem Dachboden, die Ventilatoren so aufgedreht, dass die Hitze etwas erträglicher wird. Ich bin das gewohnt, ich lebe schon Jahrzehnte auf Dachböden. 21 Uhr nochwas den Sonnabend Abend, Beine rasieren – diese tatsächlich eine (kühlere) Etage tiefer, in das, was einmal mein neues Badezimmer werden soll – eine Dusche nehmen, vor meinem großen Spiegel das Make-up auftragen. Ein feiner Kajalstrich, dezentes, schwarzes Mascara und dann die Kajal-Lidschatten-Melange in der äußeren Hälfte des Augenlids noch oben hin weg verblenden. Lippenstift brauche ich nicht, weiteres Make-up würde ohnehin sofort zerfließen, ein Sprühstoß des zum Duschbad passenden Parfüms auf meinen Nacken und ich kann mich meiner Kleiderwahl für die Nacht widmen: der schwarz-weiße Rock und das kurze, schwarze Top mit den etwas längeren Ärmeln, zusammen mit dem Silberschmuck (Armreif, Armband, Ring und Kette mit indischen Anhänger) und die schwarzen Plateaupumps aus Wildleder. Für die Fahrt zur Disko wechsele ich auf auf ein Paar Ballerinas – ich nehme das Auto. 22 Uhr nochwas und ich bin raus und bereit für die Nacht.
Mit meinem Roadster im Dunkeln durch die ländlichen Straßen, unzählige Male bin ich diese Strecke schon gefahren, als ich noch frisch den Führerschein hatte und ich dieses Kaff endlich verlassen konnte, zur Disko nach Magdeburg … damals vor fünfzehn oder zwanzig Jahren gab es da noch was mit Gothic. Jetzt bin ich auf dem Weg zur CSD-Abschlussparty in einer vielversprechenden Venue im alten, freigelegten Festungsring rund um den (plattgebombten) Innenstadtkern von Magdeburg … da wollte ich schon immer mal hin. Drei bis vier Tanzflächen, von Techno, Rave, bis Achtziger/Neunziger. In meinem Autoradio läuft ein tanzbares Album eines Retro-Minimal-Wave Künstlers. Viele Autos fahren die nächtliche Straße entlang … sie wollen alle von hier nach dort zur nächsten Disko.
Als ich den Veranstaltungsort erreiche, bin ich viel zu früh da, der Club macht erst in einer halben Stunde auf – und das ist mit 23 Uhr schon ziemlich früh, wenn es woanders erst um „23:59“ losgeht. Vielleicht haben sie an die älteren CSD-Gäste gedacht, die das nicht mehr so können. Mein (weiterer) Plan: Früh kommen, früh gehen, früh – also noch vor Sonnenaufgang – wieder ins Bett fallen. Ich biege auf den kleinen Parkplatz mit der Bretterbude für den Eingang und der noch verschlossenen Tür ein. „Boing!“ Mein tiefergelegter Sportflitzer kratzt über so eine, wirklich ungünstig gelegene Bordsteinkante. Die wenigen Besucher, die da schon am Eingang stehen, werden nach und nach mehr und es entwickelt sich zu einer kleinen Attraktion, die einfahrenden Autos und die fiese Bordsteinkante zu beobachten (es werden vielleicht schon Wetten abgeschlossen). Bis sich jemand erbarmt und eine Tonne als Markierung auf diese ungünstigen Stelle zieht. Zu spät für mich, ich kontrolliere nach dem Aussteigen und dem Wechseln meiner Schuhe, mit meinem Kameralicht den Seitenschweller, genau diesen habe ich schon einmal in einem Parkhaus verloren.
Draußen am Eingang, warten, in der Hitze des Abends. Grillen zirpen. Ich werde von zwei jungen NBs angesprochen – sie benutzen das Wort „Sie“ – ob ich einen „Muttizettel“ unterschreiben könnte, sie bräuchten noch eine Aufsichtsperson, um in die Disko reinzukommen. „Ja, OK.“ Ich habe eigentlich gar nicht so richtig die Ahnung, was das für mich bedeutet und was das für Konsequenzen für mich hätte, wenn da irgend etwas hinterher schief läuft, aber ich lasse mich überreden. Warum nicht, ich habe mich auch mit fünfzehn in die Disko geschmuggelt und da ist nichts passiert. Die beiden haben schon einen Ausweis, sind nur noch nicht volljährig. „Ich nehme meinen alten, männlichen Namen. Da kommen die nie drauf!“, ich bin wahrscheinlich die schlimmste Wahl, um verantwortungsbewusste, erziehungsberechtigte Person zu werden. „Ich bin jetzt er-zieh-ungs-be-rech-tigt.“ Die Kasse öffnet sich, ich zeige mein Ticket aus dem Vorverkauf auf meinem Telefon, die beiden da gehören zu mir. Gleich hinter dem Eingang sind sie frei und können machen, was auch immer sie machen wollen. Der Club ist ein Safe Space. Immer, wenn ich die Nacht die Tanzflächen wechsele, werde ich mal nach den beiden Ausschau halten, ob ich sie irgendwo noch sehe, oder ob sie Probleme haben (vielleicht zu viel getrunken). Aber ich werde hier nicht die „Anstandsdame“ (und tatsächlich sehe ich sie danach auch nicht mehr).
Ich erforsche diesen Club, diese alte Festungsanlage mit den Gewölben. Langgezogen, mit vielen kleinen Ecken und Nischen. Dunkel, spärlich beleuchtet, drei kleine Tanzflächen und Bars drinnen, eine große Tanzfläche draußen auf einem Holzparkett und einer stark frequentierten Bar daneben. Der Club füllt sich schnell. Diese wunderbar laue Sommernacht ist einfach zu verlockend, draußen zu feiern. Ich bestelle mein erstes, alkoholfreies Mate-Getränk.
Die Tanzfläche unter dem wolkenverhangenen Sternenhimmel, jedes Mal, wenn etwas Bekanntes aus den Achtzigern oder Neunziger-Eurodance gespielt wird, bin ich oben auf dem Parkett und schlurfe in meinen Plateaus. Eurodance … da hätte ich als Goth nie zu getanzt. Drinnen in den Gewölben, die eine Tanzfläche mit den wechselnden DJs und DJanes, mal Afro-Beat, mal Acid-Rave. Unter dem Stroboskop-Gewitter lasse ich mich rhythmisch fallen. Hämmer mir diese Scheiße aus dem Kopf! Ich habe ständig noch diese Bilder von der Reichsbürger-Veranstaltung den Nachmittag zuvor in mir. Wie die da mit ihren Flaggen und Trommeln marschiert sind, wie bedrohlich das Ganze wirkt – und was das für eine Gefahr für die ganze queere Community und das freie Leben werden wird … werden könnte. Bin ich zu dystopisch? Auf jeden Fall wirkt der Rave in den kühlen Gewölbegängen: ich schließe beim Tanzen meine Augen und es erscheinen die inneren Bilder von den unzähligen Partys auf denen ich war, mit den vielen interessanten, queeren, alternativen und schönen Menschen.
Nach und nach, ein zweites Mate-Getränk, ein Glas Wasser, eine experimentierfreudige Matcha-Brause. Die schmutzigsten und überlaufendsten Damenklos, in der der Boden immer nass ist und permanent das Klopapier fehlt und dafür die Mülleimer überquellen. Draußen alles beobachten, an einem Tisch stehen, drinnen durch die Gänge laufen, den Bauch einziehen, mich durchschieben. Schade, dass ich nicht wirklich angesprochen werde. Eine etwas ältere Frau hat mal auf dem Tresen ein paar Münzen für mein Mate-Getränk liegen gelassen – ich habe das nicht verstanden und mein Getränk selbst bezahlt. Einmal wurde ich gefragt, ob der Platz auf der Bank neben mir noch frei ist – aber ich erwarte auf schwulen Partys nicht, angesprochen zu werden. Ich bin als trans Frau uninteressant. Trans Frauen haben keine Freunde. Wenn ich eine trans Frau in der Menge erkenne, stöckelt sie immer alleine irgendwo herum. Stunden zuvor auf dem CSD habe ich wieder die Eine gesehen – sie ist mit ihren ein Meter neunzig aber auch ziemlich auffällig – nur sie anzusprechen, das habe ich mich nicht getraut, bin nur an ihr vorbeigetanzt. Vielleicht kommt sie die Nacht hier auch vorbei, in diesen Club? Dann könnte ich vielleicht den Mut aufbringen … sie wird nicht kommen, sie wäre mir ganz sicher wieder aufgefallen.
3:30 Uhr, mein Wollponcho, den ich noch im Auto, für alle Fälle, auf dem Beifahrersitz liegend, mitgenommen habe, habe ich doch nicht gebraucht. Mein schwarzes Top ohne Unterhemd reicht auch jetzt noch aus. Meine Füße, meine Zehen schmerzen – wie Profi-Ballerinas habe ich die Schuhspitzen meiner Plateaus mit Taschentüchern ausgestopft, um einen besseren Halt darin beim Tanzen zu haben. Draußen auf dem Parkplatz, als ich den Club dann doch für den Heimweg verlassen habe, ziehe ich sie mir vorsichtig vor meinem Kofferraum wieder aus, lege sie einen nach dem anderen hinein und wechsele einbeinig hüpfend in meine flachen Ballerinas zum Auto fahren. Klappe zu, noch einmal den Seitenschweller auf der Beifahrerseite abklopfen – alles hält – und ich steige ein. So viele Menschen stehen noch auf dem kleinen Parkplatz herum, ein Kommen und Gehen – ich bin mir sicher, die Party geht noch bis Sonnenaufgang.
Die Straße durch die Nacht und den tiefdunklen Morgen wieder zurück, der vorausgesagte, morgendliche Nebeldunst ist noch nicht eingetroffen. Ich fahre allein, niemand ist sonst unterwegs. Zu Hause biege ich mit meiner lauten Musik im Autoradio auf die kleine Stellfläche mit der Garage ein. Die Funkfernbedienung für das Rolltor. Ein Fade-out am Drehknopf für die Lautstärke. Das Album werde ich die nächsten Tage, wenn ich wieder morgens zur Arbeit fahre, weiterhören. Oben im Badezimmer im Dachgeschoss, das mit dem großen Spiegel … die Packung mit den feuchten Tüchern zum Entfernen des Augen-Make-up ist jetzt leer, es war das letzte Tuch. Fünf Uhr nochwas, eine Etage tiefer, ich kann mich endlich ins Bett fallen lassen. Den heißen Sonntag in ein paar Stunden mache ich einfach gar nichts mehr, ich bin zu erschöpft. (Ende Teil 2/2)
[21.08.23 / 00:51]✎Ich habe Dinge gesehen … (2) – Der CSD in Magdeburg 2023. Die Kleiderfrage: Wenn es kühl wird, komplett in Leder, alles, was ich habe, Jacke, Stiefel, Minirock und leichte Handschuhe. Wenn die Rechten dort aufmarschieren, dann komplett in Schwarz, Kampfstiefel, Kapuzenpullover, Sonnenbrille, vielleicht eine Bauchtasche für die nötigsten Utensilien und die Motorradhandschuhe mit dem Knöchelschutz. Es wird laut Wetterbericht, jenseits von dreißig Grad werden, mit schönstem und heißesten Sonnenschein und meinen ganzen Plan wieder umhauen.
Die Nächte davor waren schon ziemlich heiß (und schlaflos), ich habe mir auf den Kleiderbügeln mein finales Outfit zusammengestellt, mein schwarz-weißer Blümchenrock, das kurze, schwarze Mini-Top und das weite, schwarze Tank-Top mit der markanten Aufschrift: Not Afraid of Love – das habe ich schon länger nicht mehr angezogen, alles zusammen mit meinen robusten Keilsandaletten und meiner obligatorischen, dicken, schwarzen Sonnenbrille. Ich habe aus dem letzten CSD in Leipzig gelernt, ich nehme die absatzlosen, leichten Schnürschuhe für die Demo und die Plateaupumps mit Absatz für die Party danach – und zwei Tops – damit ich das durchgeschwitzte dann wechseln kann. Es wird alles spontan werden (welches Top ich zuerst anziehe), wenn ich dann nach der nächsten heißen Nacht den Sonnabend im August aufwache.
Sieben Uhr nochwas … Zeit genug, noch einmal die Beine nachzurasieren, ein legeres Frühstück draußen im Garten auf der überdachten Holzterrasse einzunehmen, alles in meine Stoffhandtasche zusammenzupacken – das weite, schwarze Top mit der Aufschrift anzuziehen – pinkfarbene Schnürsenkel zusammenzubinden und mich die fünf Gehminuten zum Bahnhof fahren zu lassen. Gegen zehn Uhr auf nach Magdeburg.
Es ist wie immer, voller Menschen, die ganz jungen in ihren buntesten Fahnen. Ich gehöre nicht zu dieser Regenbogen-Gruppe, mein Weg trennt sich – ich laufe zielgerichtet zum Domplatz mit der dort angekündigten Gegenveranstaltung der Reichsbürger. Warum? Was will ich da? Ich will sie sehen, ich will wissen, was das für Menschen sind. Geschichtsrevisionisten, Esoteriker oder einfach auch nur Anarchos, wie ich? Im schlimmsten Fall sind es brutale Skinheads mit Nazi-T-Shirts und ich könnte dort umgehend abgestochen werden. Ich will auch wissen, wie die Polizei das dort ordnet, wenn wenige Stunden später den frühen Nachmittag beide Demos, also die rechte Kundgebung und der dort vorbeiziehende und eine Pause einlegende CSD auf dem großen Platz aufeinandertreffen – und ich will bis dahin mich in ein Café setzen und im Schatten, geschützt vor der Sonne, darauf warten – und irgendwo soll noch eine „Gegen-Gegenkundgebung“ der Linken sein.
Ich schaffe es problemlos bis zum Platz, eine Waffel spätes Frühstückseis in der Hand, ich sehe ganz touristisch harmlos aus und sondiere schon einmal die Lage. Lage, Auftrag, Nachbarn, Grenzen … Ich bin der militärische Arm der Trans-Antifa. Der Platz ist groß, die rechten Veranstalter haben eine kleine Fläche für ihre Kundgebung auf der Seite, die vom Dom abgegrenzt wird. Es gibt mehrere Zugänge auf diesen Platz, rundherum sind Gebäude, unter anderem der Landtag von Sachsen-Anhalt (und mir ist aufgefallen, dass die Regenbogenflagge dort abgehängt wurde, wenn sie überhaupt hing). Fluchtwege, bereitstehende Polizeifahrzeuge, nicht ganz so viel Bereitschaftspolizei. Es wirkt friedlich, die Absperrgitter für später sind noch gar nicht aufgebaut. Ich wähle das abgelegenere Café am anderen Ende des Platzes für meinen Spähposten und eine große Tasse italienischen Cappuccino. Das zweite Café dort hinten neben der Kundgebung wird bestimmt mehr von „denen“ besucht. So weit die Theorie.
Die Leute am Nachbartisch fallen mir gleich auf, ältere Männer, adrett gekleidet, die eingerollte schwarz-weiß-rote Reichsflagge neben sich. Die ältere Frau, die sich wenig später zu mir an meinen Tisch setzt, wirkt eigentlich ganz nett … bis ich sie ein oder zwei Stunden später glaube wiederzuerkennen, in der ersten Reihe der Trommler auf ihrem Marsch rund um den Domplatz. Jetzt an diesem Tisch in dem überdachten Außenbereich des Cafés unterhalten sie sich nur ganz locker, über Reichsbürger-Themen, was Reichsbürger so interessiert, so die Zeit mit dem „Norddeutschen Bund“ (1867 – ich habe es im Wiki nachgelesen), ihr Credo: „Da müssen wir wieder hin!“ und natürlich kennen sie auch alle historischen Flaggen der Bundesstaaten auswendig, von Preußen bis Sachsen, die wenig später auf dem großen Platz zur Flaggenparade aufgereiht werden! Ich beobachte währenddessen das Treiben dort hinten am Dom und lausche, mehr oder weniger unfreiwillig, den Gesprächen der Gruppe an meinem und dem Nachbartisch … Großer Gott, ich werde hier noch umgedreht!
Mit Beginn der Aufreihung für die Flaggenparade leert sich das Café schlagartig. Die martialische Trommelgruppe zieht an mir vorbei, sie dürfen den Platz zweimal umrunden, angeführt von einer Polizeiwanne als Eskorte. Die Fahnenträger verschwinden alle nacheinander aus meinem Sichtfeld, hinter das Landtagsgebäude zur Elbe hin … hätten nur noch Fackeln gefehlt, aber dafür ist es die Mittagszeit leider viel zu hell. Erst war ich noch in dem Gedanken, dass das gemäßigte Reichsbürger sein könnten, so mit der Einstellung: Ob du schwul oder trans bist, interessiert mich nicht. Das ist deine Privatsache, was du mit deinesgleichen in deinem Haus oder in deiner Freizeit machst, ob du da ein Röckchen trägst, mit anderen Männern „Liebe machst“, oder was auch immer. Täusch dich nicht, der Hass ist grenzenlos. Die Situation mit dem Aufmarsch wirkt auf mich bedrohlich und weckt innerste Fluchtreflexe … ziehe ich mich auf die Toilette des Cafés zurück? Selbstverständlich die Damentoilette – das ist mein Schutzraum! Haue ich einfach ab? Ich muss meinen Kaffee noch bezahlen. Ich tue mir die ganze Scheiße an und blicke von meinen Sitzplatz aus weiter auf die Szenerie. Zurück aus der Damentoilette, mit ganz viel Sonnencreme auf der Haut, den Kaffee (und den Orangensaft) bezahlt, verlasse ich das Café an dem einen Ende des Domplatzes und laufe rüber zum Dom auf die andere Seite, von irgendwo habe ich die „Alerta Antifascista“ Rufe gehört.
Sie sind da! „Freunde!“ Mein Lächeln in meinem Gesicht, als ich auf die kleine Gegen-Gegenkundgebung der Linken treffe. Eine ganz kleine Gruppe an der Ecke des Doms, aber in unmittelbarer Nähe der rechten Kundgebung, nur getrennt durch eine Straße, ein paar Absperrgitter und ein paar Bereitschaftspolizisten in blau-schwarzer Montur. Die Lautsprecherboxen werden aufgedreht und die Faschos / Nazis / RBs dort drüben beschallt. Ich bin weiterhin in meiner angespannten, emotionalen Lage und beobachte die Flanken, rechts, links, hinter mir. Lage, Auftrag, Nachbarn, Grenzen: Gegenkundgebung und Gegen-Gegenkundgebung, auf die Ankunft des CSD warten, die Stellung halten, Flagge zeigen (Regenbogen und die Rote), Nazis beschallen. Sind Reichsbürger auch Nazis? Ich hätte nicht so lange in dem Café mit der Gehirnwäsche ausharren sollen …
Die Sonne dreht sich, der Schatten wandert, die kleine Gruppe wandert mit. Die große Kundgebung dort drüben auf dem Domplatz muss in der Sonne schwitzen, wir haben es hier an der Ecke des Doms eigentlich ganz angenehm und kühl. Jemand aus der Orga hat Wasser und Eis bereitgestellt. Es gibt nur ein oder zwei Pöbeleien von ein paar angetrunkenen Rechten, so wie ich mir Skinheads aus den Neunzigern vorstelle – jetzt eben mit Ü50, grauhaarig und Bart, aber immer noch irgendwie asi und braune Scheiße im versoffenen Kopf. Die neue Rechte mit akademischen Bildungsgrad ist weitaus gefährlicher und ich bin mir nicht so hundert Prozent sicher, ob ich nicht auch ihren Gedanken erliegen könnte. Sie haben schon eine von uns umgedreht – und das war die hübscheste trans Frau auf ganz YouTube! Ich bin hier unter Freunden. Kommunistische Kampflieder und Anarcho-Punk-Songs werden angespielt.
13 Uhr geht der CSD auf dem alten Markt los, 14 Uhr wird er hier vorbeiziehen. Bässe sind zu hören, Sprechdurchsagen, laute Musik und die Demotrucks des großen CSD beginnen langsam auf den Domplatz einzubiegen. Endlich! Wir haben auf euch gewartet. Die linke Gegen-Gegenkundgebung wird von Polizisten abgeschirmt. Wir winken den lauten Demotrucks mit den bunten Regenbogenfahnen entgegen. Ich hoffe, sie wissen es zu würdigen, dass wir hier die Stellung gehalten haben, als letzte Bastion gegen den ganzen rechts-konservativem Gedankenkram, der eigentlich nichts anderes will, als unsere vollständige Vernichtung und Auslöschung. Keine bunten Fahnen mehr, nur noch grauer Matsch und Düsternis.
Der CSD zieht weiter, auf die andere Seite des Platzes zum Landtag hin. Die Rechten wenden uns den Rücken zu – sie sind mehr fixiert auf den CSD und sehen in den – ja, es sind Kinder, mit bunten Regenbogenfahnen und Glitzer im Gesicht – ihr Feindbild. Jetzt mal ehrlich: Wie krank seit ihr im Kopf? Unsere linke und antifaschistische Demo löst sich langsam auf. Einige schließen sich gleich dem CSD an, andere später. Ich wollte eigentlich auch nur bis hierhin warten und dann mit dem CSD weiterziehen. Ich nutze das Angebot, in einer Gruppe zu laufen – Seitenstraßen mit alkoholisierten Fascho-Gesocks sind unberechenbar. Der Stand wird abgebaut, die letzten Flaschen Wasser und Eis am Stiel werden verteilt (nett, für das Angebot).
Spätestens auf dem großen Hasselbachplatz (so ein Magdeburg-Ding), gehe auch ich mit unter in die große Gemeinschaft des CSD. Hier sind es wieder mehrere tausend Menschen und mehrere Demotrucks. Vielleicht hat sich vorhin der Zug geteilt? Nicht jeder CSD-Teilnehmer und Teilnehmerin sucht die Konfrontation mit den Rechten. Hier auf dem zentralen Straßenplatz mit der letzten, bunten Kundgebung ist wieder alles normal. Der Zug zieht weiter mit lautester Musik in der sengenden Sommerhitze dieses Wochenendes im August. Die absatzlosen Schuhe und der schöne Rock und das bequem sitzende, breit geschnittene Tank-Top waren gut gewählt von mir. Die Trucks vorne und hinten, die unterschiedlichste Musik, die vielen interessanten Menschen, schwul, trans, lesbisch, was auch immer, hier und da 'ne Drag Queen. Ich bin zu Hause und tanze mich zu der Rave-Musik durch die Menge und den breiten Innenstadtstraßen. Wenig später: der Tross des CSD erreicht seinen Anfangs- und Endpunkt, wie jedes Jahr, der alte Markt von Magdeburg mit dem Rathaus (und hier hängen auch wieder die Regenbogenflaggen). (Ende Teil 1/2)
[13.08.23 / 19:58]✎ Die perfekte Shopping-Tour durch die Innenstadt von Leipzig: vom Hauptbahnhof kommend, die Fußgängerzone durch die Seitengasse in Richtung Marktplatz einbiegen, zielgerichtet den Laden mit den französischen Cremes und Duschen anvisieren, mein Haarshampoo – das ich schon immer benutze – landet in meinem schwarzen Umhängebeutel … meine Lederjacke ist da eingerollt auch schon drinnen. Gratis Handcremes einstecken, weiter zum teuren Kaufhaus am Marktplatz.
Die Runde unten, die Runde oben … alle Kleiderstangen mit dem gelben „Sale“ Symbol absuchen. Wo finde ich einen schicken Blazer für die Arbeit? Die zwei Kolleginnen haben auch einen, ich muss da mithalten. Schwarz, grau, langweilig, weniger langweilig mit Strickmuster und elegant chic – leider nicht mehr in meiner Größe. Der Preis auf dem Etikett hätte am Ende nicht mehr gezählt. Ich bewundere das schöne, silbern glitzernde Abendkleid mit den Pailletten einer Nobel-Marke … ein Frustkauf? Ich reiße mich zusammen. Die Sonnenbrille auf, das Kaufhaus verlassend, rüber zum nächsten Kaufhaus im höheren Preissegment. Aber vorher noch um die Ecke, auf den Weg dorthin, eine Kugel italienisches Eis essen. Stracciatella.
Das zweite Kaufhaus, Rolltreppe nach oben, nach unten … oben gibt es wenigstens die britische Marke mit den hübschen Hippie-Kleidern – eines davon trage ich genau in diesem Moment für den Tag. Einen passenden Blazer finde ich auch hier nicht. Ich brauche etwas, um seriös auf der Arbeitsstelle, im Büro zu wirken. Meine Punker-Lederkutte mit den Buttons ist vielleicht etwas zu viel und nicht so angemessen. Eine Chance habe ich noch: das andere Kaufhaus in dem Dreieck rund um den Marktplatz. Wenigstens habe ich zurück in dem ersten Kaufhaus schon etwas bequeme Unterwäsche für mich eingekauft, ein bügelloses und ultrabequemes, schwarzes BH-Top. Zumindest dieser Punkt auf meiner To-do-Liste ist abgehakt.
Das dritte Kaufhaus habe ich schnell erledigt, nichts für mich. Wenige Meter weiter biege ich den frühen Sonnabend Nachmittag in die Seitengasse mit den zwei Cafés ein. Ein Stück Zupfkuchen und eine große Tasse Cappuccino. Die Leggings unter meinem Kleid ziehe ich gleich an meinem Sitzplatz unter dem Tisch im Außenbereich aus, schattig beschützt unter der großen Sonnenmarkise. Das kleine Stoffteil verschwindet schnell auch eingerollt in meiner Handtasche, das schwarze Unterhemd folgt wenig später unten in der Damentoilette des Cafés. Etwas frisch machen vor dem Waschzimmerspiegel … und weiter zu der großen Shopping-Mall, die ich draußen am Tisch vor mir am hinteren Ende der Seitengasse schon gesehen habe.
Später Nachmittag in der Stadt, schwül heiß, wird es regnen? Auch die klimatisierte Shopping-Mall laufe ich kreuz und quer ab, meine Keilsandaletten mit dem Klettverschluss sind gut eingelaufen. Ein größeres Bekleidungsgeschäft hier kenne ich noch gar nicht, ein Leipziger Traditionsbetrieb mit mal nicht immer wieder dieselben Marken. Hier und da etwas Hübsches, aber leider keinen Blazer für mich. Das Budget ist für diesen Tag fest eingeplant.
Zurück zum Hauptbahnhof, 17 Uhr nochwas. Pünktlich auf die Minute, mein Date abholen. Er kommt aus einer anderen Stadt … hier irgendwo in Ostdeutschland. Wir wollen etwas Essen gehen und vielleicht einen Kaffee trinken …
Der Abend hat begonnen, alle meine Pläne, welches Restaurant, sind nicht mehr so wichtig. Der Regen hat eingesetzt – ein kurzer Gewitterschauer – kein Problem, ich habe einen Schirm mit in meiner Handtasche. Ein indischer Schnellimbiss draußen unter der Plane als spontane Lösung und wir lassen uns danach weiter treiben, rüber auf dem Marktplatz. Eine Bühne ist dort aufgebaut, viele Menschen, viel Musik. Dahinten ist die enge Gasse mit den Bars, ich will unbedingt mit ihm dorthin, wir finden auch einen Platz für Zwei, geschützt vor dem Lärm, geschützt vor dem Wetter.
Gespräche … er ist nett, aber fünfzehn Jahre jünger als ich und nicht unbedingt an mir interessiert – in sexueller Hinsicht. Aber das war vorher schon klar. Geschichten über Marrakesch, die Mopeds, die sehr engen Straßen, die vielen Menschen, nicht anders, als in der engen Gasse mit den Bars und dem Marktplatz hinter uns, in der wir gerade an einem kleinen Tisch sitzen. Ich bestelle einen Pfefferminztee und mache die Geste, wie die marokkanischen Tee-Sommeliers ihren Tee hoch erhoben mit dem Kännchen in die kleinen Gläser füllten. Den ersten Regionalzug zurück lasse ich gehen, ich nehme später vom Hauptbahnhof aus den zweiten und allerletzten Zug zurück in mein drei Bahn-Stunden entferntes Heimatkaff. Ich möchte mehr Zeit mit ihm verbringen und seine Geschichten hören.
Den späten Abend zurück zum Hauptbahnhof, immer noch viele Menschen. Vielleicht liegt meine Wahrnehmung nur daran, dass unten in der Einkaufspassage um diese Zeit, kurz vor 22 Uhr, nur noch diese eine Kaufhalle offen hat und alle Jugendlichen und Party-Volk sich dort mit Alkoholika eindecken. Er hat Stil, mein Fingerdeut auf das Dosenbier lehnt er ab, wirklich alle hier kaufen Flaschen … irgendwie gibt es immer einen Weg, diese kleinen Flaschen auch ohne Öffner aufzumachen. So viel Bier, so viele Sorten in den Regalen, ich habe schon Jahrzehnte keines mehr getrunken. Das Thüringische, das Holsteinische, weit weg die Zeit im hohen Norden.
Meine S-Bahn fährt kurz nach 22 Uhr, wir müssen uns wieder verabschieden. Vielleicht sehen wir uns wieder? Warum nicht. Auch diese S-Bahn ist um diese späte Zeit voll, es ist schwer, noch einen Sitzplatz zu ergattern, ich habe Glück. Der Zug fährt durch die Nacht, ich sehe nichts von draußen. Es ist kalt, aber ich habe noch meine Leggings in meiner Handtasche. Das Unterhemd habe ich mir, zurück in der Bar vor einigen Stunden, auch schon unten in der Damentoilette wieder angezogen. Die Zeit auf der großen Digitalanzeige vor mir an der Decke des Zugabteils, vergeht. Gedanken.
Noch ein Halt in Magdeburg, draußen auf dem großen Vorplatz vom Bahnhof zirpen die Grillen unter den durch die Straßenlaternen beleuchteten Bäumen. Auch hier bin ich nicht allein, es sind immer junge Leute mit Bierflaschen anwesend. Wer fährt denn um halb zwei Uhr nachts mit einem Schnellzug quer durch Deutschland? Menschen warten auf Bahngleisen. Mein Regionalzug fährt kurz vor Eins … der allerletzte.
Zwei Uhr, drei Uhr … kurz vor vier Uhr den frühen Sonntag Morgen, ich kann mich nicht losreißen und grase, wieder zu Hause angekommen, vor dem blau leuchtendem Computermonitor das Internet und die großen Marktplattformen nach einem Blazer in meiner Größe „38“ ab. Es gibt ihn von der Marke, von der ich auch schon andere Sachen habe, spezialisiert auf Business Casual. Schwarz-Weiß, ein Palmenmuster … vielleicht wäre mein zuerst favorisiertes Zebramuster doch etwas zu overdressed gewesen. Aber es muss etwas „Mutiges“ sein … bloß nicht langweilig. „Wenn ich darin nicht aussehe, wie ein japanischer Yakuza-Killer, dann ist es nicht richtig!“ Als letzte Aktion dieses langen Tages, des schönen Abends und dieser langen Nacht, ein Klick auf den Button zum Kaufen und ich gehe endlich ins Bett.
So wie mich meine Gedanken umhertreiben, so treibe ich auch durch mein Leben. Ziellos, rastlos, fragend.
[30.07.23 / 22:51]✎ Dicht an dicht, vor mir die anderen Menschen, neben mir, hinter mir. Der schwarze Block schiebt sich vorwärts, durch die Straßen von Magdeburg. Nur ein kurzes Stück in Richtung der Messehallen rüber auf die andere Seite der Elbe … dort der Bundesparteitag einer nicht näher erwähnten, neofaschistischen Partei. „Alerta, alerta, antifascista!“ Laute Sprechchöre, ununterbrochen. Pyrotechnik wird gezündet, ein Böller, mehrere Rauchbomben. Ich steige mit meinen Füßen darüber, durch den roten Qualm. Vermummung wird vereinzelt angelegt, ich setze meine tiefschwarze Sonnenbrille auf, meine grüne Regenjacke ist schon beim Start am Hauptbahnhof eingerollt in meiner schwarzen Handtasche verschwunden. Jetzt nur noch meine schwarze Lederjacke, meine schwarz-graue Jeans und meine Schnürstiefel. Den schwarzen Kapuzenpullover habe ich zu Hause gelassen, auch wenn es nieselt, die Temperaturen sind an diesem Sonnabend zu heiß.
Der Demozug bleibt auf der langen Elbbrücke stehen, die seitlichen Transparente werden als Sichtschutz hoch gehalten, die begleitenden Polizeieskorten filmen alles. Innerhalb des schwarzen Blocks der Antifa kann jetzt etwas entspannt werden, etwas Raum in diesem sicheren Platz schaffen, bevor es dann nach ein paar Minuten wieder vorwärts geht: „Nach vorne aufrücken!“ Keine Möglichkeit schaffen, den Bullen vereinzelt Personen herauszugreifen. „Siamo tutti antifascisti!“
Stunden später, ich sitze gelangweilt unter einem aufgebauten Zeltdach einer Gewerkschaft im Schatten vor der schwitzenden Sonne, die Lederjacke habe ich schon lange ausgezogen, darunter trage ich nur mein Trans-Lives-Matter T-Shirt. Die Demo hatte beim Start noch ein- oder zweitausend Menschen, jetzt den Nachmittag auf dem Platz mit der Protestkundgebung hat sich alles zerstreut. So viele sind hier nicht mehr. Ein schwarzer Block ist gar nicht mehr so richtig zu erkennen und der Parteitag mit den Nazis ist noch mehrere hundert Meter entfernt. Nett gemeint von den linken Organisatoren, hier eine Gegenveranstaltung abzuhalten, aber das werden die Rechten dahinten nie hören oder mitbekommen. Ich warte auf die andere Zubringerdemo, die hier noch ankommen soll. Ein Rave, zwei Trucks, viel Techno, die ich schon mittags zu Beginn am Bahnhof gesehen habe.
Laute Bässe, es passiert endlich was! Interessiert beobachte ich das Spiel vor mir, wie die Polizei mit mehreren Fahrzeugen die Kreuzung absperrt, bevor die zwei Trucks auftauchen und in Richtung des Versammlungsplatzes einbiegen … mit vielleicht fünfzig, oder hundert, oder zweihundert Leuten dahinter. Es werden auf jeden Fall mehr, als auch ich erkenne, dass die Demotrucks nicht hier anhalten und die Straße weiterziehen, in Richtung der Messehallen! Ich laufe schnell dazu und reihe mich ein.
Der Demozug verlässt die Hauptstraße, biegt ab in Richtung der Messeparkplätze, eine Gasse in Richtung der ersten Messehalle und bleibt stehen. Die Anlage wird aufgedreht, laute Musik. Vor uns, der tanzenden Crowd, das abgesperrte Gelände, hohe Zäune mit Sichtschutz. Davor haufenweise Bereitschaftspolizei in dicker Montur, dahinter die Messehalle und die ganzen blau-weiß-roten Fahnen dieser Partei im Wind. Eine bizarre Atmosphäre. Diese Fahnen erinnern nicht ganz zufällig an die Beflaggung in ganz Deutschland vor achtzig oder neunzig Jahren. Sie versuchen es nicht einmal mehr, es zu leugnen, dass sie Nazis sind!
Die Lage ist ernst, so entspannt und frei kann ich an diesem späten Nachmittag und an diesem Ort nicht mehr tanzen. Immer wieder ist da diese Vorahnung, wenn die wirklich mal an die Macht kommen – und das wird, ich hoffe, niemals passieren – dann haben wir hier auch Zustände wie jetzt in Russland und jetzt in einigen Bundesstaaten in den USA. Alles, was trans ist, wird systematisch ausradiert und kriminalisiert. Namens- und Personenstandänderungen werden rückgängig gemacht (das passiert in Russland!) und nicht mehr anerkannt, jede Möglichkeit, auf eine geschlechtsangleichende Operation oder eine Hormontherapie wird unterbunden oder sogar verboten. Gesellschaftlich wirst du als trans Frau wieder auf einen Mann zurückgestuft, egal, wie weit du schon transitioniert bist – und hast im besten Fall noch Glück, wenn du von einem wütenden, parteifreundlichen Mob nicht gleich auf offener Straße totgeprügelt wirst. Auch das hatten wir hier in Deutschland schon, 1933 – die Erstürmung des Instituts von Magnus Hirschfeld in Berlin und die erschreckende Erkenntnis, dass seine trans Mitarbeiterinnen nach diesem dunklen Tag nie wieder gesehen wurden. Und die da hinten, in der zweiten Messehalle direkt hinter der ersten vor uns, sind mit ihrem Hass nicht weiter weg. In der Geschichte der Menschheit ist das in etwa so nah, wie gestern.
Ich hoffe, sie hören uns, der dumpfe Krach von irgendwo weiter weg, als belustigende Randnotiz dieser alten Herren, voller rassistischer und alles-möglicher-phoben Scheiße in ihren Köpfen. Gewählt werden sie trotzdem. Mir bleibt nichts anderes übrig, als für den Tag, wenn das Undenkbare passiert, einen Plan zur Flucht ins Exil umzusetzen. Es wird immer schwerer, noch ein europäisches Land zu finden, das nicht komplett einer faschistischen Ideologie erliegt.
Die kleine Demo zieht ab, die beiden Trucks setzen zurück. Die bis jetzt noch friedlichen Teilnehmer drehen sich auch um in Richtung der Musik. Ein Tumult entsteht, die Situation scheint zu kippen. Was ist passiert? Ich sehe es nicht genau, ein Demoteilnehmer wurde von der blau-schwarz uniformierten Schutzstaffel festgesetzt und mitgenommen? Eine aufgebrachte Menschentraube bildet sich. Der Veranstalter der Demo versucht über das Megaphone zu eskalieren. Ich drehe mich mehrmals hin und her, ich weiß nicht, was ich machen soll. Setze ich mich jetzt hier einfach hin? Auf das Kopfsteinpflaster? So als gewaltloser Protest? Ich sehe die Menschen vor mir – es hat keinen Sinn, mit den Polizisten zu diskutieren, die sind psychologisch geschult, alles zu blocken! Ich erinnere mich an den Moment, als ich auch mal von denen mitgenommen wurde. „Ach, Scheiße!“ Ich drehe mich beschämt mit gesenkten Kopf um und ziehe auch ab. „No one left behind.“ Ein Versprechen, das ich nicht halten konnte … dafür das Versprechen meiner Eltern den Morgen gegenüber, dass ich mich nicht verhaften lasse.
Die Demo kehrt zurück auf den Kundgebungsplatz mit der kleinen, aufgebauten Bühne und der Tankstelle und den Discounter als einzige Futterquelle gegenüber. Es sind den Abend noch weniger Menschen da, als noch zu dem Höchstpunkt am frühen Nachmittag. „Abmarsch“, ich bleibe auch nicht mehr länger. Zurück über die zwei Elbbrücken in Richtung Innenstadt und den Bahnhof. Den Weg zurück, den ich vor vielen Stunden noch entgegengesetzt gelaufen bin, inmitten der von überall angereisten, antifaschistischen Demoteilnehmer, seitlich flankiert von unzähligen Hundertschaften der Bereitschaftspolizei. Jetzt den Abend ziehen nur noch vereinzelt ein paar Einsatzfahrzeuge an mir vorbei. Eine ziemlich düstere Stimmung, dass die Sonne jetzt scheint, nach diesem sehr wechselhaften Tag, ändert daran nichts. Auch nicht die Pasta bei meinem Italiener den späten Abend im Außentisch vor der Shopping-Mall mit den vielen jungen Leuten, denen dieses (eigentlich ernste) Thema wahrscheinlich am Arsch vorbei geht. Manchmal werde ich noch wegen meines auffälligen T-Shirts mit der hellblau-weiß-rosaroten Flagge angestarrt. „Trans Lives Matter.“
[17.07.23 / 00:53]✎ Draußen der Regen, der Regenschirm, meine Lederjacke, meine Nachrichten auf seinem Telefon: „Go now, hotel.“ Mein Weg führt mich durch die dunklen Straßen der Fußgängerzone, vorbei an der Gay Bar neben dem Hotel. Könnte er dort sitzen und auf mich warten? Nur ich habe die Schlüsselkarte. In der Lobby im Hotel vor dem Fahrstuhl krame ich mein Telefon aus der Handtasche … eine Nachricht von ihm, nur der Name der Bar. Die paar Meter draußen wieder zurück. Dort angekommen, frage ich die, geschützt vor der Nässe unter der Markise sitzenden Gäste, ob hier schon zu ist und ob sie meinen Freund gesehen haben. Bin ich zuerst da und er kommt noch? Nein, er sitzt drinnen. Er erkennt mich, kommt kurz raus und winkt mich hinein. Mist. Er ist bereits betrunken.
Alle meine Pläne, meine Erwartungen, meine Wünsche, meine Geilheit sind dahin. Das Kondom, welches ich vorhin in dem Club an der Garderobe, als Geschenk für die Gäste, noch schnell mit eingesteckt habe, es war vollkommen für umsonst? Ich setze mich neben ihm auf einen Barhocker und zähle die aufgereihten Bierflaschen auf dem Tresen vor mir. Die zwei leeren Likörgläser sind mir auch nicht entgangen.
Er erzählt von seiner Idee, ein Franchise-Unternehmen, eine eigene Bar irgendwo in Leipzig, wie viel er noch braucht, um da einsteigen zu können. Ich erfahre, dass er nicht mehr direkt in Leipzig wohnt und hauptsächlich vom „Bürgergeld“ lebt (also das umbenannte „Hartz-IV“). Scheiß Jobcenter. Gespräche in der Kneipe, denen ich nur zustimmen kann. Er bescheißt die, ich bescheiß die – wer nicht? Nur die Leute von der Arbeitsagentur (das Büro für die Akademiker) haben mir wirklich geholfen und mich indirekt, mit einer sinnvollen, technischen Schulung, in mein neues Arbeitsverhältnis gebracht. Noch sechs Monate Gehalt und ich könnte in sein Business einsteigen und das mitfinanzieren – geht das überhaupt? Als stille Teilhaberin / Barbesitzerin? Es ist ein Franchise, und das sind eigentlich auch nur Sklaven.
Irgendwie ist die Bar, in der wir sitzen, schon die ganze Zeit am Schließen. Wir verlassen sie auch. Der Regen draußen hat nachgelassen, er kennt angeblich noch eine andere Bar, die offen hat. So lange ist meine Zeit in Leipzig noch nicht zurück, um diese Zeit – gegen drei Uhr nachts – hat fast nichts mehr offen. Quer über den Marktplatz, meine Stammbar von früher, oben ist schon alles zu, aber unten in der Seitengasse gibt es noch den Keller. Zwei Afrikaner versuchen erzürnt an der Security hineinzukommen, werden aber abgewiesen … ihre Hautfarbe? Unten wird auch schon alles zugemacht. Mein Freund stellt sich daneben, er hält schon die ganze Zeit meine Hand. Die Erscheinung, dass wir ein Paar sind, wirkt vielleicht deeskalierend. Ich versuche ihn immer etwas wegzuziehen, lass uns etwas Abstand zu den Security-Leuten nehmen, wir gehen woanders hin. Betrunken sind für ihn alle Menschen seine Freunde und er wird in Gespräche verwickelt. Meine Buttons an meiner Lederjacke werden von einem Gast gemustert: „Irgend so eine Pride-Scheiße, nichts Vernünftiges an Punk.“
Wir irren weiter, vorbei an den Gästen, freundlich. Er kennt da noch ein Restaurant, er hat Hunger. „Du, um diese Uhrzeit hat wirklich nichts mehr offen!“ Allerhöchstens noch der Schnellimbiss im Hauptbahnhof. 24/7. Gut, lass uns zum Bahnhof gehen.
Ich habe die Hoffnung, dass er mit jeden Meter an der frischen Luft etwas weniger betrunken wird, Hand in Hand laufen wir die Straßen entlang. Der hell beleuchtete Hauptbahnhof vor uns, die Straße, die Verkehrsampeln spiegelnd in den Pfützen. Im Gebäude des Hauptbahnhofs selbst, warten unzählige junge Menschen auf die ersten Züge wieder zurück. Alles Besucher des CSD vor vielen Stunden? Die bunten Fahnen hier und da verraten es. Der Schnellimbiss hat immer offen, wir gehen hinein. Er lässt seine Finger über den Bestellbildschirm gleiten, stellt sich ein Menü zusammen und ich bewundere seine Fertigkeit, wie er das fehlerfrei in seinem betrunkenen Zustand schafft. Nur der Bezahlvorgang und das Bereitstellen des Menüs dauert eine Ewigkeit.
Was passiert hier? Wo bin ich hier? In welchem Kreis der Hölle? Nummern tauchen an den Monitoren auf, aber viele Gäste warten einfach nur noch. Mein Freund entdeckt, dass er nicht der einzige mit seiner arabischen Sprache ist … regt ihn etwas auf? Ist er angepisst oder scherzt er einfach nur. Meine Arabischkenntnisse beschränken sich auf eine Fernsehserie, die in Berlin spielt: „Wallah, ich schwör', das sind alles Arschlöcher hier!“
Irgendwann kommen wir doch noch mit einer Papiertüte, aufgedruckt mit einem großen „M“, wieder hinaus. Ein Burger, Fritten, eine Schachtel stark gewürztes Hühnchenfleisch. Er bietet es mir an, aber ich wollte für mich nur meine Flasche Wasser (ich esse nichts mehr nach Mitternacht). Zurück zum Hotel. Es wird schon leicht bläulich dunkelhell am Himmel.
Im Hotelzimmer, ich schminke mich vor dem Spiegel am Waschbecken ab, wische mir den Kajal und das Mascara aus den Augen. Zähneputzen, er fängt derweil schon an, an mir herumzumachen und ich spüre seine Hände hinter mir. Ein Augenaufschlag, ein Blick in den Spiegel. Bitte …
Ich drehe mich um, gehe mit ihm ins Bett. Er schubst mich, dreht mich, wirft mich, drückt mich in Position, ich bin bereits nackt, er zieht sich ein Kondom über und nimmt mich von hinten. Er stößt tief zu. Wie sehr habe ich das vermisst. Ich liege auf meinem Bauch, er über mir. Er drückt mich immer weiter nach vorne, ich kann nicht anders, als laut aufzustöhnen und mich in das Bett zu krallen. Der Lärm der krachenden Möbel muss bis in die nächsten Zimmer zu hören sein.
Wenn er rausrutscht, wenn er seine Erregung verliert, ich drehe mich sofort um. Das Kondom wird weggeworfen, ich nehme sein Teil in den Mund, gehe schnell und rabiat tief. Nur keine Zeit verlieren! Ich will, dass er schnell wieder steif wird und wir das nächste Kondom verwenden können. Er nimmt mich wieder von hinten …
In den Pausen bin ich über ihm. Meine Hand gleitet in meine Schamlippen … ich bin so unfassbar feucht! Verdammt! Ein ganzes Jahr ohne Sex! Ich bin eine Raubkatze. Ich tue mein Bestes, ich gebe ihm diesen Deepthroat Blowjob, bleibe tief. Er kommt. Ausgerechnet jetzt … wo ich kurz nach oben, Luft holen wollte. Explosionsartig ergießt sich alles auf seinem Bauch, das ganze Sperma. Sorry. I'm so sorry! Ich wollte alles aufnehmen, in meiner Phantasie wollte ich in den Moment über ihn rutschen und alles in meine Vagina laufen lassen. Ich will ein Kind von dir. Ich gebe ihm ein Handtuch, er kann damit alles aufwischen.
Wenig später, ich nehme eine Dusche, wasche alle meine Körperöffnungen sauber. Er zieht sich an. Ich bin zurück auf meinem Bett: „Du willst schon wieder gehen?“ Ich bemerke genau, dass er gerade nichts von sich zurücklässt. Seine Antwort, dass er nur mal schnell eine Flasche Bier holen will, lässt mich mehr als misstrauisch erscheinen. Das hat vielleicht einmal funktioniert (letztes Jahr), aber kein zweites Mal. Ein Abschiedskuss, ich sehe ihn wieder die Tür schließen. Die Schlüsselkarte verbleibt im Zimmer. Sofort nach seinem Verlassen beginne ich das Zimmer aufzuräumen, die benutzten Kondome einzusammeln, die leeren Flaschen beiseite zu räumen, ein Handtuch zusammenzufalten … hoffentlich habe ich das richtige der beiden Handtücher zum Duschen für danach verwendet. Ich rücke die Betten zusammen, ordne die Bettdecke, lösche alle Lichter, öffne das Fenster mit dem Morgenlicht für einen Spalt und lege mich ins Bett. Er kommt nicht mehr zurück, du kannst jetzt ganz sicher einschlafen.
Neun Uhr morgens den Sonntag, spätester Check-out ist erst gegen zwölf Uhr, ich hätte noch zwei Stunden weiter schlafen können. So sind es vielleicht nur drei geworden. Egal, reicht auch aus, mehr Zeit für mich für eine weitere Dusche und endlich die Haare waschen (wie viel Sperma da wohl drin klebt). Ich räume danach alle meine Sachen zusammen und mache das Hotelzimmer noch viel mehr hübscher. Alles an Müll aufsammeln und in den Eimer geben. Die benutzten Handtücher auf einen Haufen werfen. Den Klodeckel zumachen, noch einmal die Spülung betätigen. Eine Frau hat hier gewohnt. Nur, dass der Mülleimer ohne Beutel war, ist vielleicht etwas eklig … bei den benutzten Kondomen im Bodensatz. Dafür lasse ich alle Pfandflaschen zurück.
Zurück nach dem Check-out zu dem Bäcker um die Ecke gegenüber, dieser ist mir bei meinem letzten Besuch Pfingsten vor ein paar Wochen zuvor, entgangen. Ein komplettes Frühstücksmenü mit Croissant, Brötchen, Nuss-Nougat-Creme, Honig und einem mittelgroßen Pott Kaffee. Zurück zu meinem Auto, das immer noch in dem Parkhaus am Hauptbahnhof steht … wenn ich schon nicht das Hotelzimmer bezahlt habe, dann eben den luxuriösen Stellplatz für meinen roten Roadster (es sind nur 23 Euro Parkgebühr). Zurück im schönsten Sonnenschein die Autobahn in mein anderes Leben.
Was ist eigentlich aus meiner neuen Disco-Bekanntschaft geworden? Ich bin mir noch nicht so sicher was „seine“ Textnachrichten bedeuten … ich glaube, er hält mich für eine Prostituierte?
(Ende Teil 3/3)
[17.07.23 / 00:52]✎ Check-in im Hotel, der Mann an der Rezeption bestätigt tatsächlich, dass ein Zimmer auf meinen Namen gebucht wurde. Ich hatte mir schon Umschreibungen ausgedacht: Mein Agent / Manager / Sekretär hat das für mich getan. Das Zimmer mit dem Fahrstuhl in die dritte Etage ist spartanisch eingerichtet, ein Bett, ein Waschbecken, eine Duschkabine, eine separate Toilette. Mehr brauche ich nicht. Ich verteile meinen mitgebrachten Kram, ziehe mich aus und wende mich dieser Dusche zu … warmes, klares Wasser! Kurz vor 17 Uhr, ich verfolge seine Nachrichten auf dem Telefon. 17 Uhr, meine Haare sind noch nass, nicht mehr als ein weißes Handtuch bekleidet meinen Körper. Es klopft an der Zimmertür, ich öffne mit etwas Verzögerung und er ist es! Keine Worte, nur mein und sein Lächeln. Er schließt die Tür und fängt sofort an, mich zu küssen. Ich kann meine Erregung unten herum spüren. Mein Handtuch fällt und er schubst mich rücklings auf das Bett mit den zwei Matratzen.
Wollen wir reden? Nein. Später. Er zieht sich aus, ich sitze neben ihm, betrachte seinen Körper auf dem weißen Bett, er legt sich hin, sein nackter Oberkörper gelehnt an das winzige Kopfkissen. Wie wunderbar er aussieht, sein schwarzer Vollbart, seine hier und da leicht grau anfangenden Härchen, seine massive Statur, sein immer mehr runder werdender Bauch … ich hatte erwähnt, ich habe eine Schwäche für diese „Bärentypen“ in der (schwulen) Szene. Augenkontakt, ein Lächeln meinerseits, mein zur Seite geneigter, neckischer Kopf. Ich weiß, was er will, er muss es mir nicht sagen. Ich fange an, sein Stück zu massieren und gehe mit meinen Lippen darüber. Er kneift in meine Brustwarzen, ich beiße ihn.
Tiefer, tiefer. Ich will, dass er sich wohlfühlt, ich will ihm dienen, ich will die Beste sein, die er jemals in ein Bett bekommen hat. Woher er gekommen ist, ob es da noch andere Frauen gibt? Ich stelle keine Fragen. Für einen kurzen Moment verspüre ich an ihm den markanten Geruch eines Kondoms.
Ich setze immer wieder an – etwas blockiert, ich komme mit meinem Mund und meiner Kehle nicht tief genug? Ich versuche andere Winkel, möchte wieder so tief gehen, wie die Jahre früher, als „meine Nase noch seinen Bauch anstupste“. Es ist sein Bauch! Und meine Stirn, sie kollidieren. Es ist ihm nicht entgangen, dass ich früher, als er mich das erste Mal trainierte (und er noch etwas schlanker war), nicht solche Probleme hatte. Irgendwie geht es doch (er drückt ihn mit der Hand flach).
Nach einiger Zeit zieht er sich wieder an, er möchte kurz runter in die Lobby, ein paar Flaschen Bier und Wasser holen. „Aber du kommst doch wieder?“ Mein geschockter und fragender Blick. Ganz bestimmt, er nimmt die Schlüsselkarte mit, damit er nicht anklopfen muss. Es ist noch Tageslicht, ich nehme währenddessen eine weitere Dusche. Wieder oben, zieht er sich wieder aus, stellt die mitgebrachten Flaschen ab und legt sich zu mir auf das Bett. Er legt seine Hand um mich und schläft schnell ein. Ich spüre seinen Körper, seinen Atem. Meine Nase an seiner Wange, mein Blick zu ihm herauf.
Nach einiger Zeit und einem kurzen Erwachen seinerseits, drehe ich mich. Er umschlingt mich jetzt von hinten. Eine Bettdecke brauchen wir in diesem warmen Hotelzimmer nicht. Er schläft wieder ein, meine Gedanken kreisen. Von einem „Ich“, zu einem „Du“, zu einem „Wir“ und letztendlich ein „Er“. Was mag er alles erlebt haben, was habe ich ihm alles angetan? Was haben wir alles verpasst, was hätte aus uns werden können? Ein paar leise Tränen rollen auf meinem Gesicht die Wange und die Nase herunter. Vielleicht tropfen sie auf seinen Arm, vielleicht auch einfach nur auf das weiße Kopfkissen. Es wird beginnend dunkel draußen vor der heruntergelassenen Jalousie vor dem Fenster. Vielleicht schlafe ich auch für ein paar kurze Momente ein.
21 Uhr, sein Telefon klingelte schon ein paar Mal im Vibrationsmodus. Er steht auf, zieht sich an. Er will noch ein paar Bekannte treffen. „Aber wolltest du mit mir nicht vielleicht noch ausgehen? Etwas essen, etwas trinken?“ Später vielleicht. Ich sehe ihn wieder die Zimmertür schließen. Allein zurückgelassen in dem Hotelzimmer, mache ich mich auch ausgehbereit für die Nacht. Eine weitere Dusche … der Geruch an seiner Haut, dieses Orientalische, benutzen wir ein ganz ähnliches Duschgel? Es entspricht meiner Natur. Wieder aus der Dusche kommend, sprühe ich das dazu passende Parfüm über meinen Nacken und meine Haare. Kajal, tiefschwarz, Mascara, tiefschwarz. Das kurze Leoardenkleid auf dem Kleiderbügel ist wieder trocken, ich hätte etwas anderes zum Wechseln für die Nacht mitnehmen müssen? Ich wollte dieses Kleid, ich bin dieses Kleid. Für die Nacht in der Disco trage ich doch die absatzlosen Barfußschuhe mit den pinken Schnürsenkeln, das war so nicht geplant, aber ich bin in Grenzen flexibel (meine geschundenen Füße). Die Lederjacke, ein Regenschirm, 22 Uhr nochwas, das heiße, tropische Wetter draußen vor dem Fenster hat sich in ein Gewitter verwandelt.
Die paar Meter durch die Innenstadt von Leipzig zur Moritzbastei. Es gibt noch eine andere Abschlussparty für den CSD, aber die ist weit draußen in Plagwitz, kostet mehr Eintritt und ist bestimmt nur mit Vorkasse. Auf dem Weg zu den Kellern der Moritzbastei mit der Disco für diese Nacht möchte ich noch eine Pizza essen, in dieser Schnellimbisskette mit italienisch angehauchter Menükarte. Die Vegetarische, wie immer. Die Bestellung in dem Restaurant, der Sitzplatz, alles wie sonst … nur bekomme ich nur die dreiviertel Pizza runter, mittendrin drängt es mich auf die Toilette. Zurück am Platz am Bartisch ist die Pizza schon längst wieder abgeräumt. Egal, ich habe keinen Hunger mehr und das stumpfe Messer war sowieso furchtbar. Den Preis bezahlen. Weiter durch den Regen zur Disco.
Wo ist der Eingang? Dieser Studentenkeller überrascht mich auch jedes Mal wieder. Tief unten in den Gewölben finde ich mich nie zurecht. Wo war jetzt die eine Tanzfläche, wo die andere? Gab es hier nicht noch irgendwo eine Cafeteria? Für diese Nacht ist nur eine einzige Tanzfläche offen, ich gebe nach dem Eintritt und der obligatorischen Kontrolle meines Geburtsdatums, meine Lederjacke und meinen Regenschirm an der Garderobe ab. Die Treppen runter erst mal eine Flasche Club Mate an der Bar holen.
Wummernde Bässe, Techno, Rave, nicht ungewohnt für mich. Trotzdem sitze ich gefühlt die nächste Stunde an einem Tisch im Separee und betrachte im schummrigen Licht mein Telefon. Wird er mir eine Nachricht schreiben? Er hat angekündigt, dass wir zusammen ausgehen. Ich lese zum Zeitvertreib Internetnachrichten. Leningrad kann ich jetzt vergessen, ich werde wohl nie die Eremitage besuchen können – in diesem Land bin ich jetzt als trans Person unerwünscht, wenn nicht sogar illegal und gegen alle Gesetze verstoßend.
Kurz nach 23 Uhr, eine weitere Nachricht von ihm, er kommt vorbei? Nur noch wenige Minuten, dann ist er da. Aufgescheucht laufe ich in den Kellergewölben des Clubs umher. Die Treppen hoch zum Eingang, vor dem großen Spiegel dort mein Äußeres und meine Haare richten. „Honey, die kannst du sowieso nicht mehr retten.“ Kurz nach draußen, schauen ob er schon da ist. Wieder zurück nach drinnen, Stempel auf meinem Handgelenk an der Kasse zeigen. Wieder nach unten, warten, in einer Ecke neben der Tanzfläche auf das Smartphone starren. Wieder die Treppe hoch nach oben, vorbei an dem Spiegel: „Honey …“ Nach draußen vor die Tür. Wieder zurück … nach unten. Und so wiederholt sich das Ganze. Es bleibt nicht unbeobachtet, einem anderen Gast fällt mein Treiben auf. „Wollen wir etwas tanzen?“ – „Ähh … nein. Ich warte auf Jemanden.“ (So viele verpasste Chancen.)
Irgendwann verliere ich die Hoffnung, es ist mehr, als nur eine „arabische Stunde“, er wird nicht kommen. Ich wende mich dem anderen Gast zu … wir wechseln ein paar Wörter, stellen uns vor – er kommt aus Marokko. Hey, da war ich Anfang des Jahres! Ich zeige ihm voller Stolz meinen schweren, silbernen Armreif, den ich extra für dieses Wochenende trage, der ist aus Marrakesch. Er ist interessiert, aber viel zu jung für mich. Er bewundert meine Ehrlichkeit und dass ich immer vorher sage, dass ich trans bin … obwohl mir die Wortwahl nicht gefällt, früher einmal „ein Mann“ gewesen zu sein. Trans Frauen waren schon immer Frauen. Wir tauschen unsere Nummern aus. Währenddessen erscheinen neue Nachrichten meines Liebhabers.
Ich gehe tanzen, wir gehen tanzen, ich tanze alleine, oder auch nicht. Eine Drag Show um Mitternacht (oder später, oder vorher) erregt meine Aufmerksamkeit. Ein Zeitgefühl habe ich nicht. Die Tanzfläche wird nach Mitternacht immer leerer und kurz vor zwei Uhr sind nur noch eine handvoll Gäste unter der Glitzerkugel versammelt und den Beats der aufgelegten Rave-Musik folgend. Mit der Realisierung, dass ich jetzt wirklich viel Platz zum Tanzen habe, beginnt sich mein Tanzstil zu verändern und gleicht immer mehr einer auf und ab wandernden, gefährlichen Raubkatze. Zwei Uhr, ich verlasse den Club. (Ende Teil 2/3)
[17.07.23 / 00:51]✎ Der CSD 2023 in Leipzig – Jedes Jahr stelle ich mir wieder die gleiche Frage: Was ziehe ich an? Die schwarze Tunika mit den weiten Ärmeln? Am liebsten, ja – aber mir fehlt ein passender, schwarzer Rock, an den Hüften eng und nach unten hin auslaufend (der Morticia-Addams-Style). Meine Wahl fällt angesichts der heißen Temperaturen auf das schwarz-grüne Leopard-Kleid, dasselbe, das ich schon den Tag zuvor im Kino anhatte, dasselbe, das ich auch danach den Abend in der Strandbar an der Elbe anhatte, zusammen mit meinen italienischen Stiefeletten … Szene fehlt. Das kürzeste Kleid und die höchsten Stilettos in meinem Bestand, genau richtig für den CSD an diesem heißen Wochenende Mitte Juli in Leipzig.
Seit Tagen bereite ich mich darauf vor, seit Wochen sogar mit meinen Barfußschuhen – ich will meine Waden trainieren, damit ich wieder einen ganzen CSD auf ultrahohen Absätzen laufen kann! Im Bedarfsfall habe ich meine absatzlosen Schnürschuhe auch noch im Kofferraum … zusammen mit der Waschtasche und den ganzen anderen Übernachtungskram. Ich nehme das Auto, ich kann fahren, wann ich will, alles mitnehmen, was ich will – und – ich habe eine Klimaanlage. Soweit der Plan: nach dem Frühstück den Sonnabend losfahren, am Parkhaus am Hauptbahnhof parken, rübergehen zur Kundgebung auf dem Augustusplatz und dann die Demo mitmachen.
Was ich nicht bedacht habe, ist der Anfang der Sommerferien und die vielen Baustellen auf der Autobahn, streckenweise zieht sich alles im besten 60-km/h-Mopedtempo. Ist mir egal, ich komme an, wann ich ankomme, von der Kundgebung muss ich nichts mitbekommen. Irgendwann zur Mittagszeit in Leipzig angekommen, schlüpfe ich mit meinem Roadster in meine angestammte Parknische in dem Bahnhofsparkhaus im ersten Oberdeck. Sachen sortieren, Schuhe wechseln, Dinge im Kofferraum lassen (Jacke, Waschtasche), Dinge mitnehmen (eine Flasche Wasser in meinem Gothic-Pogo-Umhängebeutel und meine schwarze Handtasche). Mutig stolziere ich mit meinen Stilettos und meinem Leopard-Dress raus auf die Straße und hinein in das gleißende Sonnenlicht. Sonnenbrille, mein Hut und eine tiefschwarze Leggings verhindern Schlimmeres.
Die Straße entlang zum Platz an der Oper, die vielen Trucks werden beladen und vorbereitet. Interessiert notiere ich mir in meinem Gedächtnis, wer dieses Jahr alles mitfährt: die üblichen, ortsansässigen Firmen, die üblichen Parteien, die Uni und die Wagen der befreundeten CSDs und der von Leipzig selbst. Hier und da noch ein paar andere Fahrzeuge … vielleicht auch etwas für mich? Die Runde durch die aufgebauten Stände am großen Platz spare ich mir, es ist einfach zu heiß und mich zieht es in den nächsten Schatten.
Die Bäckerfiliale um die Ecke zur Fußgängerzone, eine Tasse Kaffee an einem Tisch und der Ledercouch daneben in dem überdachten Innenhof. Die Textnachrichten auf meinem Smartphone lesen … ich habe ihm wieder geschrieben, meinem Freund, Ex-Freund, Liebhaber, was auch immer. Seit Tagen stehe ich wieder in Kontakt mit ihm … er hat bereits ein Hotelzimmer in der naheliegenden Innenstadt auf meinen Namen gebucht? Ich müsste dort nur nach der Demo einchecken. Er hat meinen Wunsch beachtet, dass ich sehr wahrscheinlich eine Dusche benötigen werde, später …
Ich tauche meinen Körper in Sonnencreme, lasse keine Stelle aus, die Schultern, das Gesicht, die Arme. Das mein Silberschmuck damit Kontakt aufnimmt, ich werde sie die nächsten Tage wieder abspülen müssen. Bereit für die Demo, erhebe ich mich von der Couch und stelle mich wenig später draußen, nachdem ich meine leere Kaffeetasse in der Geschirrrückgabe gelassen habe, vor dem Eingang des Bäckers unter den schattenspendenden Arkaden mit Blickrichtung auf die Straße, in der in jedem Moment die startenden Trucks losfahren könnten. Mein Blick schweift auf den angrenzenden Augustusplatz … so viele Menschen! Es müssen mehr als zehntausend sein! Sie sind jung, sie sind bunt, sie sind friedlich und diszipliniert kämpferisch zugleich. Es könnte eine richtig gute Demo werden – trotz der ultraheißen Temperaturen (wie ich später erfahren werde, wurde die Demoroute deswegen sogar verkürzt und hätte eigentlich viel länger ausfallen sollen). Laut wummernde Bässe dröhnen um die Ecke, es geht los!
Ein Fahrzeug nach dem anderen fährt an mir vorbei … schön, dass ihr dort oben mit Wasserpistolen für eine frische Abkühlung sorgt, aber muss das sein? Auf meine frisch mit Sonnenschutz eingecremte Haut? Kontraproduktiv. Es dauert eine ganze Weile, es geht nur sehr langsam vorwärts, die große Menschenmenge, versammelt auf dem Opernplatz, bewegt sich kaum. Nach und nach, ich stehe an der Straßenecke und warte … und dann tauchen sie auf! Kommunisten mit ihren Bannern? Antifa? Der bunt-schwarze Block? Ja! Endlich wieder ein antifaschistischer Block ganz hinten! Die schönen Menschen. Für mich. Das Warten hat sich gelohnt, ich bin da und reihe mich mit meiner kleinen Trans-Pride-Flagge mit ein.
Vorbei durch den Innenstadtring, in kleinen Trippelschritten … ein mehr oder weniger angenehmes Tempo auf meinen hohen Absätzen, die Wasserflasche in meinem Umhängebeutel mit den szenefreundlichen Slogans (Scheiß Faschos) immer griffbereit. Die Sonne drückt unbarmherzig, Kampfrufe erschallen … dieser hintere Teil des Zuges fällt unter der etwas strengeren Obhut der begleitenden Polizeieskorte. Sie ist dezent, es gab in den alten Jahren mit dem queerfemministischen Block schon ganz andere Zwischenfälle. Wird dieser hintere Teil absichtlich während der Pausen in der Sonne gehalten? Verschwörungstheorie. Jeder achtet auf sich und die anderen. Vernunft lässt ausreichend Wasser mitnehmen. Wenn ich anfange, blind zu werden und Doppelbilder zu sehen, sollte ich jeden kleinsten, schattenspendenden Baum oder Laternenmast am Straßenrand mitnehmen. Habe ich mir zu viel vorgenommen? Gestern war da noch der Gedanke, die Stilettos in dem Umhängebeutel zu lassen und für die Route auf dem Asphalt die absatzlosen Schuhe zu tragen … diese liegen jetzt in diesem Moment im Kofferraum meines Autos ganz weit entfernt in einem Parkhaus, im Schatten. Kämpferisch ertrage ich diese Strapazen, in Gedanken an all die gequälten Seelen und Körper der trans Frauen auf der ganzen Welt! Ich mache das für euch, für mich, für alle! So weit dazu.
Die Demo mit der verkürzten Route biegt wieder in das enger bebaute Gebiet der Leipziger Innenstadt ein, mein Fähnchen weit erhoben im Wind, zu der Techno-Musik vom Truck am hintersten Ende der Demo. Ich schaffe auf meinen Absätzen auch das letzte Stück, die letzte Kurve, vorbei an der Straßenbahnhaltestelle am Hauptbahnhof, inmitten dieser wunderbaren Menschen um mich herum. Wieder zurück zum Startpunkt der Demo. Wie lange hat das jetzt gedauert? Ich weiß es nicht. Mein Kleid ist klitschnass, es ist voller Schweiß. Die Wasserflasche ist auf die letzten Meter leer. Die Demo ist zu Ende, die Musik klingt aus, die Menschenmenge zerstreut sich, nicht ohne den Organisatoren des letzten Demotrucks ausgiebig zu danken.
Ein kleiner Park ist neben mir. Ich schaue mich um. Der Park mit dem See hinter dem Operngebäude … Schatten vielleicht? Eine Bank? Meine Schritte werden kürzer, ich bin erschöpft. Einen Sitzplatz finde ich nicht. Ich schleppe mich weiter zu dem großen Platz mit der Bühne, den Ständen und dem Fest nach der Demo. Mit jedem Meter sitzen immer mehr junge Menschen überall herum, auf Wiesen, auf Steinen, Treppen, Geländern, Bänke gibt es hier nicht.
Der Platz mit den Ständen der Vereine und Organisationen, nichts, was ich nicht schon die letzten Jahre gesehen habe und mein weiteres Interesse erwecken könnte. Das Bühnenprogramm, was hier noch kommen könnte? Bin ich schon zu alt dafür? Ich brauche dringend eine erholende Dusche, meine zweite Wasserflasche aus dem Auto, ein schattenspendendes Zimmer, ein Bett zum Daraufliegen und Entspannen! Ich danke dir so sehr, dass du dieses Zimmer für mich organisiert hast. In schmerzhaften, winzigen Schritten schleppe ich mich in der Hitze zu dem Parkhaus am Hauptbahnhof zu meinem geparkten Auto, um meinen ganzen anderen Kram aus dem Kofferraum zu holen und weiter in die Innenstadt zu dem Hotel … nicht unweit, nur eine Seitengasse weiter, von dem Hostel das vergangene Pfingstwochenende. Für diese paar hundert Meter hin und zurück brauche ich gefühlt noch ein bis zwei Stunden. (Ende Teil 1/3)
[26.06.23 / 00:23]✎ Freitag Mitternacht, ich bin gerade von einem Abendessen mit den Kollegen zurück, ein kurzer Blick auf mein Smartphone, nur mal schnell die Nachrichten checken. Ein Kontakt von Tinder hat mir geschrieben … habe ich seine Nummer nicht schon letztes Jahr gelöscht? Auf diesem Dating-Portal bin ich auch schon seit letztem Sommer nicht mehr online. Ich antworte ihm mit ein paar kurzen Zeilen.
Es braucht nur zwei oder drei weitere Nachrichten und es stellt sich schnell heraus, was seine Absichten sind: er will ein Sextreffen mit mir, Fotos, Bilder, vielleicht noch ein Video? Sorry Honey. Aber die, die du suchst, bin ich schon lange nicht mehr. Ich gebe ihm einen Link zu meinem Profil auf dem Webcam-Erotik-Portal – dort kann er sich gerne „verlustieren“. Genau dafür ist es da, um solche Kontakte abzuwimmeln … und für mich springt vielleicht auch noch etwas heraus (aber eigentlich habe ich in der ganzen Zeit, die ich da war, noch nie die Auszahlgrenze des Erotik-Portals erreicht).
So viele Dinge passieren mir in der letzten Zeit als Andrea, über die ich nicht so öffentlich schreiben kann. Mein anderes Leben, weit abseits von dem als Morgana – meine Kunstfigur, das ehemalige Escort-Girl, ungehemmt und sexuell freizügig, verrucht und von der Rotlichtszene magisch angezogen. Sie ist nicht echt, sie ist nur ein Teil von mir.
Ich als Andrea – die IT-Ingenieurin mit der in den vielen psychologischen und psychiatrischen Gutachten nachgewiesenen „autistischen Wesensart“, die, deren „soziosexuellen Kontakte“ nur auf flüchtigen Begegnungen basieren. Mein Leben: ich gehe zur Arbeit, ich komme von der Arbeit, ich sitze zu Hause, manchmal gehe ich auch das Wochenende weg, ein Festival, ein Konzert, eine Bar. Mit der Grenze jenseits der Vierzig habe ich (als Frau) die Schwelle zur Unsichtbarkeit überschritten. Es gibt einen Arbeitskollegen, der mich immer zu einem Essen einlädt … macht er mir Avancen? Ich bin in solchen Dingen blind und auf einem guten Rat hin, lasse ich mich während der Probezeit auf nichts ein. Ich verbringe wirklich viel Zeit auf der Arbeit, sie ist fast schon wie eine Sekte. Zwei Monatsgehälter und ich bin bereits raus aus dem Dispokredit.
Die Trans-Selbsthilfegruppe trifft sich zweimal im Monat in einem hübschen Park irgendwo in Magdeburg. Ich würde so gerne darüber schreiben – aber das kann ich nicht. Es ist ein sehr geschützter Kreis, den ich seit zwei oder drei Jahren sporadisch besuche. Ich bin nicht allein, ich habe meine Freunde mit denen ich so intime Fragen teilen kann: Was antworte ich, wenn mich eine Kollegin nach meiner „Periode“ fragt? Nett … ich nehme die Pille? Ich bin auf Hormone? Ich habe deswegen keine Monatsblutung? Auf jeden Fall den Schein bewahren, dass ich eine echte Frau bin (sie hat vielleicht schon mitbekommen, dass ich einiges zu verbergen habe). Der kleine Hexenzirkel der trans Frauen unter dem Baum auf der Wiese in dem Park ist in solchen Fragen auch nicht so wirklich sicher.
Zurück den Sonntagabend bei dreißig Grad in meinem Roadster mit offenen Verdeck die Straße entlang herumräubern, im Autoradio läuft ein zwei Jahrzehnte alter Goa-Trance-DJ-Mix mit laut wummernden Bässen. Vorher noch am Ufer der Elbe in einem Café ein Eis essen. Interessant zu wissen, dass ich mich in jede engste Parklücke zwängen kann, ohne hinterher die Türen öffnen zu müssen – ich klettere einfach oben heraus oder schwinge mich abgestützt wieder hinein, und lasse mich einen halben Meter in meinen Sitz vor dem Lenkrad fallen. Weiter auf dem heißen Asphalt zu der Techno-Musik der Sonne entgegen.
[18.06.23 / 20:15]✎ Ein kleines Musikfestival mit drei Bands irgendwo in Magdeburg, in einem soziokulturellen Zentrum für Frauen. Ich war da noch nie, wollte es mal ausprobieren. Danach auf einen Absacker in die Bar beim Hauptbahnhof, inmitten der Latino-Musik und der tanzenden Menge eine Stunde lang mit dem Strohhalm in meinem Ipanema und den Eiswürfeln herumstochern. Mein Sitzplatz auf der Außenterrasse, die Spanisch sprechenden Exil-Gäste um mich herum geben dem Ganzen ein internationales Flair, weit nach Mitternacht. Mehr passiert nicht.
Fast hätte ich im Dunkeln einen Radfahrer überfahren, ich habe ihn im Scheinwerferlicht wenige Zentimeter vor meiner Motorhaube schon schreien gehört. Er hatte verdammtes Glück, ich konnte noch bremsen. Weg war er.
[04.06.23 / 19:44]✎ Vor mir bis zum Horizont hunderte Motorräder, die Ausfahrt ist der Wahnsinn (jemand hat mitgezählt, ich bin Nummer 440). Eigentlich war es nur ein Gedanke, ganz hinten mitzufahren, aber das hat sich dann doch so ergeben … mit Warten und erst mal Zuschauen. Hinten Fahren macht auch viel mehr Spaß – und trotzdem mit Disziplin: zwei Reihen, versetzt, und ich immer ganz rechts für die langsamen Maschinen (die, die ihre Bikes „um die Kurve tragen“, auch wenn bei dem Winkel nur verdammt wenig Platz ist).
Der Parkplatz für die Pause, die Tankstelle in der Nähe des Truppenübungsplatzes in der Mitte von Sachsen-Anhalt, wird langsam zu klein für die Menge an Motorrädern, bis alle erst mal losgefahren sind, kann ich mich noch gemütlich mit einer Zuschauerin unterhalten. Jetzt muss ich aber mal so langsam wieder los. Die letzten Kilometer verpasse ich den Anschluss an die Meute und muss schon die zwei, drei Autos und den LKW vor mir „aufrauchen“ (habe ich so gelesen, dass das das Wort dafür ist). Gashahn aufdrehen, wieder Anschluss an die Gruppe suchen.
Nur für die Bikerparty danach bin ich nicht mehr da, zu kalt die letzten Nächte und vor allem das letzte Wochenende. Hier nur zwei Stück Kuchen (für den es sich überhaupt lohnt, dahin zu fahren!) und ein Kaffee und ich sattele wieder auf. Bis nächstes Jahr.
[03.06.23 / 09:43]✎ Freitag … wollte ich nicht „vorschlafen“? Ich bin so aufgeregt, ich falle erst weit nach ein oder zwei Uhr in den Schlaf, wache um fünf Uhr nochwas auf. Der Koffer ist gepackt, alle Sachen schon akribisch vorher aufgelistet und herausgesucht: viel Platz ist da nicht in dem kleinen Rollkoffer (ich will mit der Bahn fahren). Drei schwarze Tops für das „Trad-Goth-Outfit“, die schwarze Yoga-Hose (ultrabequem und ich werde das Wochenende noch so Einige sehen, die die auch anhaben), meine Plateau-Pumps – die gerade noch so in das Gepäckstück mit hinein passen – und mein neues Kleid. Ich bin mutig und will dieses Jahr von der allseits schwarzen Farbe abweichen … es ist grün und weiß. Tatsächlich orientiere ich mich hier an dem „Gothic-Lolita-Look“, mit dem schweren Parfüm (ein Geschenk), dem Patchouli und all meinen Silberschmuck mit in der Waschtasche bin ich wieder „gothic“ … vor allem mit dem silbernen Armreif von der letzten Urlaubsreise, der muss mit!
Zeitig auf Arbeit erscheinen, noch einen kompletten Arbeitsfreitag mit endlos langen Meetings füllen, bzw. „absitzen“, bevor ich den Nachmittag eine halbe Stunde früher gehen kann, ich brauche diese Zeit, um meinen Zug zu erwischen. Dieses Jahr nur die schmale Festivalvariante, von Freitag auf Montag, drei Nächte – kein viktorianisches Picknick für mich, keine große Kiste mit all meinen Schuhen – nur die Pikes ziehe ich während der Zugfahrt an. Für mein um ein Tag verschobenes Picknick im Park in Leipzig habe ich mir extra den Tag zuvor noch einen Flechtkorb aus dem Baumarkt geholt … das Osterkörbchen zu Hause in der Abstellkammer wäre auch nicht angemessen gewesen. Auto in der Garage parken, Koffer greifen, weiter zum Provinzbahnhof.
Wie immer, die Züge sind voll, verspätet über alles, niemand würde auch annähernd auf die Idee kommen, dass die an jedem haltenden Nest durch die Landschaft schaukelnden Regionalzüge von mehr als drei Dorfjacken benutzt werden … schon gar nicht zu Pfingsten. (Idee: ICE und RE müsste dieselbe Preisklasse sein, gestaffelt nach Kilometern und nicht nach nicht vorhandenen Luxus.)
Endlich in Leipzig den frühen Abend angekommen, noch Geld am Automaten holen, weiter mit meinem Rollkoffer hinter mir zu dem gebuchten Hostel – ein Acht-Personen-Zimmer – werde ich es überstehen? Alle Kommentare von Verwandten und Kollegen: Bist du verrückt?, weise ich von mir. Ach! … Ich war beim Bund! O-Ro-Pax! Ich habe den Platz ganz oben auf dem Doppelstockbett zwischen Eingangstür und der Toilette. Hauptsache billig und es ist keiner da. Sind bestimmt alle beim Festival und ich habe den Freitagabend für mich allein. Fühl dich wie zu Hause und lauf nackt hin und her während der Vorbereitung für die Nacht. Eine Dusche, Parfüm, Dessous, ein schwarzer BH, ein Spaghettiträgertop, die Yoga-Hose, das schwarze Top mit den Ärmeln in Spitze, der schwarze Ledermini, die schwarzen Pikes-Stiefeletten, meine schwarze Lederjacke. Den schwarzen Kapuzenpullover gebe ich eingerollt mit in die Handtasche – die Nächte, und vor allem der Morgen, werden kühl. Kajal, Mascara, Silberschmuck und Patchouli – bereit für die Nacht.
Der erste Abend auf dem kleinen „Gothic-Pogo-Festival“ – es könnte mein zwanzigstes sein? Den Vorgänger in der Tangofabrik und die Online-Ausgaben während der Pandemie mitgezählt. In der Straßenbahn begegnen mir noch viele andere Gäste des anderen „Gotik-Festivals“ – hätte ich etwas mehr Geld über (wäre ich nicht den zweiten Monat im Dispo), ich würde mal wieder ein Ticket kaufen (nach zehn Jahren Abstinenz). Eine Besucherin in der Straßenbahn wirkt aber auch bezaubernd hübsch, ich kann meine Augen gar nicht so sehr von ihr lassen.
Das Werk 2 am Connewitzer Kreuz im Süden von Leipzig, die Heimat des kleinen Festivals. Die eine Band die Nacht zuvor habe ich schon nicht sehen können, dafür sind diese Nacht ein paar interessante „Gitarren-Bands“ angekündigt! Eine davon habe ich zuletzt 2006 gesehen (wahrscheinlich auch genau hier). Ich laufe durch die zwei Hallen, ich hole mein Bändchen (ohne das ich mir nackt vorkomme), versuche Gesichter wiederzuerkennen, Besucher nicht, aber die Veranstalter (sie müssten mich auch schon erkennen). Ich brauche das Fünf-Tage-Bändchen noch für das „Club-Hopping“ und den freien Eintritt später. Ein obligatorischer, erster „Club Mate“ an der Bar.
Die erste Band … Punk? Die zweite Band … auch so Punk? Aus Finnland? Ich bin hier nur wegen der dritten Band: Boah, sind die alt geworden … Hey, so alt bin ich doch auch nicht? Siebzehn Jahre liegen zwischen hier und damals. Und ich kann immer noch bei zwei, drei Titel die Refrains mitsingen. Weiter zu den beiden Discos die Nacht.
Die eine Tanzfläche … Gitarrenlastiges? Die andere Tanzfläche … queeres Zeug? Eher so „Gestampfe“ – zurück zur ersteren. Die Nacht oder den Morgen gehe ich erst sehr spät ins Bett – nicht vor dem Sonnenaufgang! Nicht vor dem ersten Frühstück! Ich will mal wieder so richtig ein Festival durchmachen, es so angehen lassen, wie auf einem Rave. Scheißegal um meinen Körper und wie viel ich die Nacht doch nicht geschlafen habe. Gegen drei Uhr wechsele ich den Veranstaltungsort.
Rüber in den anderen Club mit der Italo-Disco-Tanzveranstaltung und den freien Eintritt für mich mit kooperierenden Festivalbändchen. Meine Tasche lasse ich an der Garderobe, meine Lederjacke – mit den verschließbaren Seitentaschen für etwas Kleingeld – behalte ich für das Erste an. Hinunter in den Keller zu Italo-Disco tanzen … endlich!
An der Bar ein Glas Wasser holen, werde ich angequatscht, er mit seinem EBM-T-Shirt ist schon etwas angetrunken. Kurz zusammen tanzen, wieder an die Bar, Smalltalk (bist du öfters hier – nein, nur dieses Wochenende) und er küsst mich auf meine Lippen.
Ich bin verstört. Er lässt sofort mit einer Entschuldigung ab. Das habe ich nicht kommen sehen. Ich gehe erst mal wieder tanzen, alleine. Ein Blick nach draußen, die Treppe zum Ein- und Ausgang hoch, die Dämmerung setzt ein, Zeit zu gehen? Vögel zwitschern schon. Ich sehe ihn nicht mehr und er sieht mich nicht mehr, fluchtartig (nachdem ich noch ein paar Titel getanzt habe) verlasse ich den Club.
Wieder zurück zu dem anderen Festival, oder doch schon zur Straßenbahn, ich muss noch etwas Zeit rumkriegen bis sechs Uhr, bis die Bäcker für das Frühstücksbrötchen am Bahnhof aufmachen. Nicht allzu viel später zur Straßenbahnhaltestelle und wieder zurück zum Hauptbahnhof in die Mitte von Leipzig.
Es ist noch keine sechs Uhr, aber der Bäcker unten in der Passage hat schon offen, ich nehme mir ein Croissant, ein Schokobrötchen und ein Rosinenbrötchen rüber mit ins Hostel, auf einen Kaffee verzichte ich noch.
Mein Frühstück drücke ich mir wenige Minuten später, gegen sechs Uhr, am Stehtisch vor der Eingangstür zum Hostel rein. Es ist kühl, den schwarzen Kapuzenpullover habe ich schon länger unter die Lederjacke gezogen. Zurück ins Zimmer, die Betten sind belegt und die Leute schlafen schon. Leise versuche ich auch, mich meiner Klamotten zu entledigen, im Bad das ganze, schwarze Augen-Make-up zu entfernen, zurück die Sprossen die Leiter hoch zu meiner Liege zu steigen. Schranktüren öffnen, schließen, Schlösser klicken – ich bin die Einzige, die etwas mehr Platz hat und ihren ganzen Kram direkt oben auf dem Schrank neben dem Etagenbett deponiert. Das Wachs in den Ohren, das Halstuch vor den Augen und die Augen schließen.
Husten, Schnarchen, Leute stehen auf, gehen wieder ins Bett … spätestens um acht Uhr ist „morgens“ und „Aufstehzeit“. Alle Tricks zum Einschlafen funktionieren nicht … ich ahne Schlimmes. Ach, hätte ich ihm doch eine Nachricht geschrieben … nur du kannst mich hier herausholen! „Hilf mir!“ (Ende Teil 3/3)
[03.06.23 / 09:42]✎ 24 Stunden zurück, der Sonntag, ich habe es geschafft, fünf Stunden zu schlafen, immerhin. Die lauten Gäste in dem Zimmer im Hostel in der Innenstadt von Leipzig sind weg, jetzt sind da nur noch ein paar „Elder Goth“ (wie ich), die Rücksicht aufeinander nehmen – und doch fällt mir auch immer alles herunter vor dem kleinen Schrankfach. „Sorry.“ Mein weiß-grün kariertes Kleid – so eine schöne Wahl für die Tage. Die schwarzen Pumps, die schwarze Sonnenbrille und ich bin zum Frühstück gegen Mittag wieder draußen in der Innenstadt … da war irgendwo noch dieser Waffelladen.
Es tut mir leid um meinen Ex-Freund, ich habe ihn so verarscht und sitzen gelassen. Mein schlechtes Gefühl führt mich den frühen Sonntagnachmittag zu der Adresse, die er mir geschrieben hat. Wird er unzählige Stunden später noch hier sein? Nein, ich warte vergebens vor dem Hochhaus in der Nähe des Landeplatzes für die laut knatternden Rettungshubschrauber an der Uniklinik. Zurück in die Innenstadt, bzw. die Südvorstadt von Leipzig. Ich tingele den Nachmittag noch durch ein syrisches Restaurant, ein Kaffee mit Kuchen und Tee (das sehr beliebt ist bei den sehr alten „Gotiks“) – und zurück am Marktplatz die alte Stammbar für ein Glas Orangensaft und ein Wasser, bevor es weitergeht zum Festival. Was ziehe ich an? Mein Trad-Goth-Outfit. Die Nacht davor, das ärmellose Top mit dem Netzausschnitt.
Sonnabendabend, eine Dusche wieder zurück, das spezielle Duschbad mit dem speziellen Parfüm – so schwer orientalisch, wie auch mein Silberschmuck. Der Peridot-Anhänger an der Silberkette, das Peridot-Armband mit Silber – und mein silberner Armreif aus Marrakesch, diesen trage ich hier aber auch jeden Tag und Nacht. Das weiß-grün karierte Kleid hänge ich wieder an den Bügel an dem Griff des Koffers, der oben auf dem Schrank neben dem Doppelstockbett in dem Zimmer im Hostel liegt. Ich bin die Abende nicht immer allein, ab und zu kommt auch noch jemand von den anderen Gästen, Klamotten wechseln. Weiter für die Nacht auf den Sonntag zu dem Veranstaltungsort von dem kleinen Gothic-Festival. Nach der wirklich schlaflosen Nacht nach meiner Anreise möchte ich diese Nacht nicht so lange machen. Keine Ahnung, wie viele Bands diesen Abend spielen, meine aktuelle Lieblingsband aus Frankreich ist jedenfalls mit dabei. Ich stiefele mit Sonnenuntergang an der Gay-Bar in der Innenstadt vorbei zu meiner Straßenbahnhaltestelle an der Oper.
Ausstieg Connewitzer Kreuz – jetzt muss ich aber auch mal bei dem äthiopischen Streetfood-Stand essen. Fingerfood ist hier wirklich Fingerfood, ich schaufele das leckere Essen mit meinen Fingern in mich hinein, schlecke diese ab, bevor ich mich zu dem Waschbecken in der Damentoilette in der Veranstaltungshalle gegenüber nach dem Eintritt begebe. Ich laufe hier immer durch, Bändchen zeigen, Taschenkontrolle (sie sind hier sehr nervös, nach dem Vorfall mit den K.o.-Tropfen letztes Jahr).
Die erste Band des Abends, ich bin sowas von beeindruckt – diese selbstgebauten Elektronik-Kisten! Dieser brutale Klang! „Wow!“ Meine Begeisterung inmitten des Publikums. Zwischen den Bands wieder raus in die andere Halle mit der zweiten Tanzfläche und den Marktständen (bis auf eine weitere CD und einem Deathrock-Patch für meine Lederjacke / Punkerkutte werde ich dieses Jahr nichts kaufen). Eben mal auf die Toilette hier und dort, an der Bar ein Club Mate – und schon wieder den Anfang der nächsten Band verpasst. Ich bin allein unterwegs, mal in meiner autistischen Blase, mal Rocker-mäßig herumschlendernd, den Vorfall mit dem Typen an der Bar von dem Club die letzte Nacht nicht so richtig verarbeitend, auf mein Telefon schauend. Diesen Abend gibt es hier in dem Innenhof einen Grillstand, aber ich habe draußen vor dem Eingang schon gegessen. Mein Ex-Freund hat mir geschrieben … Scheiße! Meine Mine verfinstert sich, was habe ich getan? Er hat meine höchst dramatischen Nachrichten den Morgen zuvor wirklich für echt gehalten. Mir geht es doch mittlerweile wieder besser, ich konnte etwas schlafen. Er hat einen Bekannten angerufen, ich könnte dort übernachten, er wartet bis zwei Uhr dort, ich soll ihm schreiben, wenn ich mich auf den Weg mache.
Meine Hand an die Stirn … ich könnte diese Nacht noch Sex mit ihm haben? Vielleicht ist das der Punkt? (Wird das nicht ebenso schlaflos?) Ich bin irritiert, weiß nicht, was ich machen soll … ich will weiter tanzen und die nächsten Bands sehen. Der Nachrichtenaustausch draußen vor dem Eingang am alten Grillstand geht so lange, die eine Band dazwischen habe ich schon komplett verpasst. Noch eine weiter, jetzt kommt meine Lieblingsband aus Frankreich, die, die ich schon den letzten Tag im letzten Jahr gesehen habe (und auch dort ließ ich ihn sitzen nach mehreren Nachrichten, ich bin so eine Bitch).
Die Handtasche mit dem Telefon lasse ich an der Garderobe, endlich frei. Auf der anderen Tanzfläche wird nach den Auftritten Oldschool-Deathrock gespielt. Der Lautsprecher vor mir kann gar nicht laut genug sein, um meine Gedanken und Schuldgefühle hinwegzufegen. Niemand spricht mich hier an. Zurück auf die erste Tanzfläche (die mit der Bühne), ein Barhocker oder ein anderer Sitzplatz. „Was würde Mary tun?“ Immer, wenn ich nicht weiter weiß, wende ich mich an mein großes (imaginäres) Vorbild. „Sei kein Arschloch.“ Ich möchte doch noch zu dieser Adresse fahren. Die weitere Stunde auf der Toilette (schon wieder Blut) und die Kenntnis, dass außer der Linie 11 hier dieses Wochenende nichts nachts fährt und ich keine Ahnung habe, wie ich da hin komme, lässt meine Entscheidung kurz nach drei Uhr klarer werden: Zurück ins Hostel, eine Nacht gebe ich dem Zimmer noch. (’Tschuldigung, dass mir die Tür so laut ins Schloss gefallen ist, war keine Absicht.)
Der Sonnabend … brutal gar nicht geschlafen. Ich sitze gegen zehn Uhr in dem Doppelstockbett auf meiner Liege ganz oben, diese vielen Menschen, jeder steht irgendwann irgendwie auf, geht an seinen Schrank, geht auf die Toilette, geht raus aus dem Zimmer, knallt die Tür. Die Festivalbesucher, die den Morgen zurückkommen (ich), die Nicht-Festivalbesucher, die schon früh aufstehen, die dann doch wieder älteren (und netten) Festivalbesucher, die auf das Frühstück nicht verzichten können. Alles, was ich mir vorgenommen habe: Wird schon werden, nimm Oropax mit! – Keine Chance. Bin ich mal kurz eingenickt? Ich glaube nicht. Ich bin verzweifelt und schreibe ihm ein paar Nachrichten. Eine Antwort erwarte ich nicht. Die Jahre sind vorbei, als ich noch bei ihm übernachten konnte, bevor ich meine Wohnung hatte.
Aufstehen, Frühstück hatte ich ja schon. Diesen Tag ziehe ich mein schönes, neues Kleid an: das weiß-grün Karierte! Dark Cottagecore. Draußen die in der Innenstadt flanierenden Festivalbesucher in ihren historisch anmutenden Roben sind nicht allzu weit entfernt von meinem Stil … ich könnte aber auch den 1940er Jahren entsprungen sein, zusammen mit der schwarzen Nylon-Strumpfhose und den Plateau-Pumps – die ich extra für dieses Wochenende und dieses Outfit mitgenommen habe! Der Silberschmuck die letzte Nacht, mein marokkanischer Armreif. Ich ziehe meinen Flechtkorb von dem Schrank herunter, packe meine Kaffeetasse mit ein, mein ebenso kariertes „Picknick-Tuch“ und gehe raus, eine Pizza zum Mittagessen und gleich direkt daneben bei dem Bäcker in der Innenhofgasse zwei Stück Kuchen für den Nachmittag kaufen. Weiter zum Clara-Zetkin-Park.
Die Haltestelle kenne ich noch, den Weg zurück merke ich mir, um genau diese Haltestelle wiederzufinden (nicht, wie das Jahr zuvor). Mein Weg durch die grüne Parkanlage führt mich vorbei an den Stellen, an denen ich letztes Jahr schon war. Das Wetter ist identisch: sonnig, trocken und nicht so warm – ideal für das „Viktorianische Picknick“ – welches ich dieses Jahr um einen Tag verpasst habe. Den Sonnabendnachmittag sind kaum noch „Gotiks“ unterwegs … eigentlich fast gar keine. Nur Normalos in dem Park.
Ich wähle die gegenüberliegende Uferseite an dem See und betrachte meinen Sitzplatz vom letzten Jahr: Genau dort hinten auf der Mauer habe ich gesessen. Enten quaken, der Kaffee, den ich mir vor dem Einstieg in die Straßenbahn noch bei einer größeren Kaffeehauskette in meinem Becher habe gießen lassen, ist immer noch genauso kühl – mit den Eiswürfeln (dabei wollte ich doch gar keinen Eiskaffee). Schön zu erkennen, dass der Thermobecher auch so herum funktioniert. Meine ein Stück Zupfkuchen mit Kakao und ein Stück Eierschecke esse ich von dem Papptableau mit der Hand, die Kuchengabel habe ich im Koffer vergessen. Bis hierhin um 16 Uhr hat sich der Kuchen und die Tasse Kaffee mit dem Deckel sehr gut gehalten in dem großen Flechtkorb. Nach einer Weile entspannen – und mich von der schlaflosen Nacht erholen – trage ich meinen geflochtenen Picknickkorb in der Armbeuge kurz vor 17 Uhr wieder zurück zur Straßenbahn. Vielleicht kann ich in dem Hostel noch etwas schlafen oder zumindest entspannen (die Augen zu machen), bevor ich mich wieder ausgehfertig mache … die letzte Nacht in dem Club hatte ich das Top mit den langen Ärmeln in Spitze an. (Ende Teil 2/3)
[03.06.23 / 09:41]✎ Ich muss furchtbar aussehen, ich ziehe meinen Rollkoffer das kurze Stück zum Bahnhof in Leipzig, um diesen in eines nach Urin stinkenden Schließfächern für ein oder zwei Stunden zwischenzulagern. Noch ein zweites Frühstück gegen zehn Uhr? Die anderen schwarzgekleideten Leute bei dem Bäcker schauen mich schon so schockiert an, wahrscheinlich sehen selbst die Real-Life-Darsteller von dieser Fernsehserie, die Drogenjunkies vom Leipziger Hauptbahnhof, noch besser aus, als ich. Tiefe, schwarze Augenringe, ein blasses Gesicht, in meinen Pikes dahinschleichend. Egal … vor der Abfahrt nach Hause noch ein drittes, indisches Frühstück in der Fußgängerzone.
Stunden zuvor, der Sonntagabend – für mich die letzte Nacht bei diesem Gothic-Festival, bei dem ich immer zu Pfingsten bin. Diese Nacht ist der lange Marathon geplant. Werde ich durchtanzen? Ich wechsele in dem Hostel mein weißes Kleid in das tagesaktuelle Schwarz: die wirklich ultrabequeme, schwarze Yoga-Hose, das neu gekaufte Fischnetz-Top und das ärmellose Top. Zusammen mit den Stiefeletten, der Lederjacke und dem schwarzen Ledermini, ein so „80er-Jahre-Outfit“. Schwarzer Kajal … Patchouli. Mein orientalischer Silberschmuck. Mit der Straßenbahn nach Connewitz zum Werk 2.
Drei Bands, eine Französische, die es wirklich draufhaben, den kitschigen Synthie-Pop zu … persiflieren? (Nein, die machen das wirklich so.) Eine ultrakühle Wave-Band aus Polen (mit Sonnenbrille). Und ein deutscher Künstler an seinem Sythesizertisch, der die Massen so sehr anzieht (zurecht), dass ich auf den Weg in die andere Halle und zurück irgendwann nach Mitternacht vor der langen Menschenschlange stehe und auf das Aufheben des Einlassstopps warte. Ich komme doch wieder rein.
Nach den Bands, tanzen. In mir reift der Gedanke, gegen zwei oder drei Uhr zurück ins Hostel? Check-out ist erst um elf Uhr – und schlafen kannst du ja sowieso nicht! Ich mache durch! Ich will endlich auch den Sonnenaufgang in dem Innenhof dieser Festivallocation sehen. Wie die Nächte zuvor, meine schwergepackte Handtasche mit dem Kapuzenpullover gebe ich an der Garderobe ab. Weiter an die Bar, ab einem bestimmten Zeitpunkt nur noch Wasser. Auf dem Weg von der vollen Tanzfläche zu den Toiletten schaue ich immer wieder nach draußen.
Es wird leicht heller … mit Beginn der Morgendämmerung positioniere ich mich draußen auf dem Pflaster. Zu kalt? Mein Pullover ist noch in der Tasche drinnen. Ich falle einem anderen Festivalgast auf: „Glaub mir, das dauert mindestens noch eine Stunde.“ Ich bewege mich nicht weg, ich will diesen Moment nicht verpassen. Die Jahre zuvor war ich entweder drinnen auf der Tanzfläche, draußen um die Ecke, oder es war trübes, regnerisches Wetter unter dem Vordach, oder ich war schlicht und einfach schon längst wieder in meiner alten Wohnung in Leipzig. Ich starre gebannt auf den leicht hellen Schein am durch einen Baum und einem Hausdach verdeckten Horizont. Mein neuer Verehrer amüsiert sich. „Lass uns uns umarmen.“ – „Klar … eine Umarmung geht immer.“ Die Sonne kommt heraus und ich bin für einen Moment fasziniert. Der Dampf, der Nebel, im hellen Lichtschein draußen auf dem Hof, qualmend vor der offenen Tür zur Disco.
„Hier gibt es einen ‚Dark Room‘?“ hier gibt es keine Dark Rooms, er führt mich zum weiteren Rummachen in eine nicht wirklich dunkle Ecke vor dem Toiletteneingang der schon längst wieder geschlossenen, zweiten Veranstaltungshalle und lehnt sich mit mir gegen die weiße Wand. Mein Lederrock aus einem Sexshop auf der Reeperbahn in Hamburg ist aber wirklich bezaubernd mit dem rückseitigen Reißverschluss … auf, zu, auf und zu. Seine Hand landet in meiner teuren Unterwäsche, seine Finger … wo ist der Eingang? Ja … du, ich bin da unten etwas anders, als andere Frauen. „Du bist operiert?“
Und hier endet seine Exkursion, er kann es nicht verarbeiten. Ich sehe aus, wie eine Frau, ich bin eine Frau – und dann wieder doch nicht? Er ist froh, dass wir uns nicht geküsst haben, ich ließ ihn auch nicht an meine Lippen heran, die sind tabu.
„Willst du mit mir frühstücken gehen?“, mein Blick. Der Bäcker an der Kreuzung gegenüber, ich könnte ihm noch ein paar Dinge mehr erklären. „Deine Kumpels werden dich morgen fragen, ob dir das mit der Transe nicht aufgefallen ist.“ Er lehnt ab, er muss das noch weiter verarbeiten, das ist neu für ihn. Irgendwann gegen halb acht, ich gehe alleine rüber zum Frühstück, im hellsten Sonnenschein. „Ein Croissant, ein Mohnbrötchen mit Erdbeermarmelade und einen großen Café Crema.“ Zurück auf die Tanzfläche bis neun Uhr und dann mache ich mich mit der Straßenbahn auf zum Hostel-Check-out und noch eine Dusche nehmen. Schon wieder eine schlaflose Nacht. (Ende Teil 1/3)
[14.05.23 / 01:25]✎ „Vermassel mir das nicht!“, mein Spruch zu meinem Spiegelbild die ersten Tage auf der Damentoilette in der neuen Firma, als ich für einen kurzen Moment meinen Zopf öffne und meine Haare neu richte. Anders wie zuvor, verhalte ich mich nun professionell, optisch zurückhaltend, eher meinem alten Ich gleich – dafür so kommunikativ, wie ich es noch nie zuvor war. Immer Fragen stellen, mit in die Kantine gehen, mit in die Cafeteria gehen, zusammen einen Kaffee trinken – der hier gratis ist, soviel du willst.
Bis jetzt läuft es gut, fange ich erst mal auch an, zu programmieren, lande ich auch im „Tunnel“ und bin nicht mehr ansprechbar – aber das ist hier normal. Ich muss mich nur zusammenreißen – wenn ich irgendwo nicht weiterkomme, ewiges „Reverse-Engineering“ betreibe, endlos lange im Intranet nach nicht existenten Dokumentationen suche, irgendwann frustriert im Leerlauf rotiere … dann bin ich raus. Gefeuert. Genau das ist mir bei der letzten Stelle passiert. Auf die Kollegen zugehen! Reiß dich zusammen! Mach hier nicht wieder so eine Szene! Immer sympathisch bleiben. Manchmal habe ich keine Ahnung von den elementarsten, technischen Dingen und Begriffe, aber das fällt noch nicht auf? Dranbleiben, Einlesen … auch zu Hause später die Nacht. Wie in Japan, es gibt für mich nur die Arbeit.
Dass ich mich dieses Mal mehr mit den anderen Mitarbeitern unterhalte, ist neu. Ein Lerneffekt? Ich will die Stelle noch nicht riskieren, ich brauche das Geld, noch zwei Monatsgehälter bis zur Rückzahlung aller meiner Schulden. In meiner Phantasie entnehme ich meinen neuen Soft Skill der kurzen Phase als Web-Darstellerin, die vor der Kamera, und in den Chats mit den Männern, die ich alle nicht kenne, aber irgendwie einen Smalltalk betreiben muss, als Kunden-Akquise (vielleicht gehe ich tatsächlich irgendwann wieder online und mache das nebenbei weiter). Auf Arbeit weiß davon niemand.
Jetzt steigen die Temperaturen an, mein androgynes Erscheinungsbild mit dem weiten, schwarzen Pullover durch die Großraumbüros schreitend könnte jetzt einen mehr offensichtlicheren, weiblichen Charakter annehmen, wenn ich meine engen, schwarzen Tops trage. Der Exzentriker-Bonus durch meinen schwarz-grauen französischer-Chic-Mantel ist dann dahin. Noch ist mir keine andere Kollegin auf der Damentoilette begegnet. Vielleicht mache ich mir auch nur viel zu viel Gedanken und bemerke gar nicht, dass ich schon ein gewisses Passing erreicht habe.
Die Nächte zwischen den Arbeitstagen auf YouTube – das neue Selbstbestimmungsgesetz macht mir Sorgen. Im Kern ein guter Ansatz, aber durch die unzählig vielen Ausnahmeregelungen im aktuellen Entwurf für die Abstimmung, ein totales Desaster. Klar kannst du dann (und sollst du auch) dein Geschlecht und deinen Vornamen einfach ändern – aber was ist mit denen, die das alles schon durch das alte Transsexuellengesetz hinter sich haben? Die neue Variante mit der dringend benötigten Freiheit für die Betroffenen löst im Internet eine Hetz- und Hasskampagne aus, deren Ausmaß ich mir noch gar nicht vorstellen kann.
Ich habe Angst. Vor fast zwanzig Jahren war ich die Einzige, konnte nachts durch Leipzig laufen, war vollkommen frei und fühlte mich sicher. War froh, diesen Weg gegangen zu sein, konnte mich endlich als Frau fühlen … die, die ich schon immer war! Hassverbrechen? Transphobie? Alles Fremdwörter, kam in mein Vokabular nicht vor. Ich war einfach ich und konnte sogar mit Männern ungezwungen flirten (und so ist mein echter Name „Andrea“ entstanden). Und heute, Jahrzehnte später: „Transfrauen sind Männer.“
Werde ich jetzt wieder angegriffen? Die Damentoilette, die ich nur noch ausschließlich nach meiner Transition, viele Jahre zurück, benutze, ist als fremder „Schutzraum“ für mich ab sofort tabu? Nur weil ich anders geboren war? Nach den Hass-Videos auf „YouTube“, die ich mir masochistisch veranlagt immer wieder antue und den aggressiven Hetzern und den sogenannten Influencern darin, schon.
Wie der neue Gesetzesentwurf interpretiert wird, es zählt nicht mehr, ob du schon jahrelang den Namen und diesen dämlichen Geschlechtseintrag im Reisepass geändert hast, ob du untenherum operiert bist, oder nicht, ob du wahnsinnig weiblich aussiehst, schon ewig als Frau lebst und eine bist … nur vergessen hast, das einzutragen (oder andere Gründe) und jetzt droht ein Krieg? Pech für dich. Im neusten Entwurf dieser Vernichtungsschrift wurde der Passus mit der unbilligen Härte wieder gestrichen und du kannst dich in der nächsten Kaserne melden.
Es widert mich an, wie diese ultrarechten Video-Kommentatoren darüber entweder jubeln, oder sowieso alles vom Staat und das ganze mit dem LGBTQ+ verhöhnen, ablehnen, als nicht lebenswert betrachten. Es tut mir um die trans Frauen leid, die weit entfernt vom jeden Passing in einem Interview vor die Kamera gezerrt werden, noch einmal betonen, wie wichtig dieses neue Gesetzt ist und ihre ganzen negativen Erfahrung mit Hass und Gewalt gegen sie in der Öffentlichkeit aufzählen. Es ruft kein Mitleid bei den Zuschauern hervor. „Ihr habt es ja selbst so gewählt.“
Ich schweife ab … wie viele Prozent der Bevölkerung denken so? Den Bogen zum Anfang wieder zurückfinden … wie viele dieser nicht so netten Kollegen bin ich noch nicht begegnet? Wenn mir der erste dieser Art über den Weg läuft, wenn ich das erste Mal einen Spruch mitbekomme … es besteht die Gefahr, dass ich mich wieder komplett zurückziehe. Mein Geister-Ich steht noch als Schatten hinter mir.
[21.04.23 / 20:04]✎ Und wieder einen Arbeitsvertrag unterschrieben … den kommenden Monat Mai muss ich schon komplett aus dem Dispokredit bestreiten (die fette Aktiendividende war schnell wieder weg). Ein aufstrebendes Tech-Unternehmen in der Mitte der Provinz von Sachsen-Anhalt, unter fernöstlicher Leitung. Dafür fahre ich von meinem nur noch einzigen Wohnsitz aus nur ein paar Minuten.
Ich habe Angst – die Nächte schlafe ich weiterhin vor drei Uhr nicht ein. Aufstehen ist erst den Mittag danach, nachdem ich seit Sonnenaufgang mehrere Stunden scheinbar wach die Schlafzimmerdecke angeschaut habe und in Gedanken mein zweites Phantasieleben in Episoden weitergeführt habe, das mit den Freunden und sozialen Kontakten … in meinem realen Leben bin ich nach wie vor nur ein Geist, ein Schatten.
Für die Arbeit in dem Werk und den Entwicklungsbüros muss ich mir Regeln aufsetzen: Keine Kleider, keine Röcke, keine Schuhe mit Absätzen! Alles, was nur entfernt weiblich erscheint, bis zur Unkenntlichkeit verdecken! Weite, schwarze Pullover – was ich den Sommer mache, weiß ich noch nicht. Die beiden Dinger kann ich auch nur schwer wieder verbergen, sie sind einfach da. Haare immer streng zu einem Zopf zusammengebunden … in dieser Firma arbeiten nur Männer? Sehr konservativ eingestellte Männer.
Die letzten Firmen habe ich zu viele schlechte Erfahrungen gemacht, bin negativ aufgefallen durch meine Sommerkleidchen, die Haare offen und die Keilsandaletten an den Füßen, manchmal auch die Stoffschuhe mit den rosa Schleifchen. Ich habe bei der Mittagspause in der Kantine und in den Büros stark geschminkte Frauen gesehen, in ultrahohen Absätzen – aber ich darf das nicht. Ich könnte sonst tuntig oder trans wirken, mit abwertenden Blicken und im Tonfall klar erkennbare, abneigende Bemerkungen: „Es haben sich Mitarbeiter beschwert, dass du die Damentoilette benutzt“, „Wenn er nicht operiert ist, darf er da auch nicht hin“, „Juchhu, Schätzchen!“, die Stimme sehr weit nach oben gezogen.
Wurde ich gemobbt? Habe ich bewusst das gar nicht wahrgenommen? Alles lief hinter meinem Rücken, unbewusst ist es doch zu mir durchgedrungen. Flashbacks: Die Baumallee auf der Fahrt zur Arbeit jeden Morgen, die Augen für Momente geschlossen, die Tachonadel auf hundertzwanzig … die Straße geht nur geradeaus. Wenn die nächste, jetzt kommende Arbeitsstelle nur ganz leicht etwas besser ist – ich muss die Probezeit nur zehn Wochen durchhalten (oder die mit mir), dann gibt es wieder Geld vom Arbeitsamt! Die Zeiten für den Anspruch sind dann endlich erfüllt? In meiner Traumwelt, mein zweites Phantasieleben, könnte ich einfach so arbeiten, mich mit den netten Kollegen und Kolleginnen unterhalten – eine soziale Interaktion führen. Einen Ausbruch aus meiner dunklen Einsamkeit wagen.
Was passiert denn jetzt mit meiner anderen Karriere als „Erotik-Modell“? In dem Arbeitsvertrag sind nebenberufliche Tätigkeiten ausgeschlossen, die brutale 40-Stunden-Woche würde dafür auch keinen Raum bieten. Bis jetzt hatte ich da noch keine Geldeinkünfte, die paar Videos und Fotos von mir auf dem Portal bringen kaum etwas ein. Ich war auch schon seit zwei Monaten dort nicht mehr eingeloggt, eine Live-Video-Show hat nur ein einziges Mal stattgefunden, irgendwo, irgendwann im Februar:
… Ich brauche ein, zwei Stunden für die Vorbereitung, das Anbringen der Kamera vor dem Bett, meine Leopardendecke darauf weit ausgebreitet, die eine Stunde vor dem Spiegel im Badezimmer, das tiefschwarze Augen-Make-up, die rasierten Beine – nicht die Schamhaare. Die Stunde für die ausgeklügelte Beleuchtung, ein Strahler seitlich von 45 Grad und von oben herab, mit einer Folie abgedeckt für ein weiches, milchiges Licht. Die anderen LED-Lichter gespiegelt von der anderen Seite neben der Kamera von unten herauf zu mir, für die nahezu perfekte Ausleuchtung meiner Intimzone (sollte ich die Beine weit spreizen). Die dritte und rote LED-Leiste hinter dem Bett für das Atmosphärenlicht die weiße Wand im Hintergrund des ansonsten dunklen Zimmers hochstrahlend (bei Bedarf könnte ich es auch auf „Violett“ schalten, Amsterdam-Style).
Kontrolle der Technik, das Videobild ist da – der Ton? Ich hoffe, auch. Den sehr späten Abend, mitten in der Woche, einloggen in dem Erotik-Portal, einen Video-Chatraum öffnen … auf Kundschaft warten.
Die ersten Männer sind nur für ein paar Sekunden da, ich bin noch komplett bekleidet, mein schwarzes Spitzenunterhöschen, ein schicker BH, mein Leder-Mini und meine schwarze Strickjacke (es ist Winter). „Sag mir einfach, was du sehen willst“, mein Begrüßungsspruch. Ich weiß noch gar nicht, dass mein Mikrofon nicht funktioniert, mein Gesicht ist nicht zu sehen.
Eine Stunde vergeht, eine zweite Stunde vergeht, ich ziehe erst meinen Leder-Mini aus, dann meine Strickjacke. Ich weiß, um die Männer in meinem Chat zu halten, müsste ich spätestens ab Mitternacht komplett nackt zu sehen sein. Mehr als die schwarze Unterwäsche habe ich dann auch nicht mehr an.
Ein Uhr nachts, jetzt kommt Bewegung hinein. Ein Chatpartner bleibt für eine längere Zeit, der BH verschwindet gleich. Er scheint Gefallen an mir zu finden, wie auch andere Chatpartner zuvor, blendet er ein Live-Video-Bild von seinem besten Stück ein. Ich mache meine Bewegungen auf meiner Decke, strippe das Unterhöschen weg, massiere meine Brüste – er bleibt länger in dem Raum! Endlich ein Klient. Ich lese seine kurzen Textnachrichten:
„Zeig mir deinen Arsch.“
Ich gebe alles. Drehe mein Hinterteil zur Kamera, auf allen vieren, die Hand gleitend durch die Schamlippen, dann weiter von unten durch die gespreizten Beine nach hinten. Den Blick immer auf die Textnachrichten haltend.
„Du Sau! Du steckst ja gleich mehrere Finger hinein!“
Ich nehme erst einen, dann zwei, probiere noch mehr Finger meiner Hand in mein Anal-Loch zu schieben … der „Fotzensaft“ hängt in langen, glitzernden Fäden von meiner Möse herab und tropft in dem schummrigen Lichtschein vor der Kamera auf meine Leopardendecke. Er ist fasziniert.
„Wenn du jetzt noch Ton hättest …“
Mist, alles nochmal, der Ton war gar nicht eingeschaltet. Nicht so dramatisch, er bleibt auch weiterhin. Die nächsten Minuten der Stunde laufen jetzt mit Audio. Meine Finger gleiten weiter durch meine Ritze, ab und zu ein lauter Klaps auf meinen Po.
„Bist du gekommen? Ich habe jetzt auf deine kleinen Brüste gespritzt.“
Ich versuche einen Abschiedskuss zu improvisieren. Ich war auf jeden Fall sehr erregt und es hat mir mit ihm gefallen, aber am Ende lässt meine Kraft doch etwas nach und ich brauche eine Pause. Er verabschiedet sich. Es ist zwei oder drei Uhr nachts, wie lange ging das jetzt mit ihm? Gefühlt dreißig, vierzig, fünfzig Minuten? Diese Erfahrung der Interaktion, vor der Kamera, für ein Publikum, mit dem Zuschauer zusammen etwas erschaffen … begehrt zu werden, intimste Einblicke von mir zu teilen! Das ist neu für mich. Ob sich so alle Bühnendarstellerinnen fühlen?
Noch eine Stunde Nachbereitung, das Set wieder abbauen, die auf „eine-Handbreit-über-Bauchnabelhöhe“ aufgehängte Kamera, die Lichter und die Technik, der Laptop auf meinem Bett. Zurück im Badezimmer vor dem großen Spiegel alles Make-up wieder entfernen, die wuscheligen, langen, blonden Haare durchkämmen … auch die (leicht verklebten?) blonden Schamhaare. Werde ich es wieder tun? Gehe ich diese Woche noch weiter online? Baue ich mir eine Kundschaft von Liebhabern auf? Kann ich so wirklich eine Menge Geld verdienen? Fünf Uhr nochwas den Morgen, den nächsten Werktag in der Woche, ich gehe geschafft ins Bett, das habe ich mir verdient.
Solltest du dich in dem Text wiedererkennen – ich habe deine Wörter zitiert – du kannst dich glücklich schätzen, dass du etwas Einmaliges erlebt hast! Ich bin seitdem nie wieder online gegangen.
[11.04.23 / 03:36]✎ Meine Zwillingsschwester und ich, wir sind nur sehr selten gemeinsam auf Fotos zu sehen … für diese Fotomontage habe ich mehrere Nächte gebraucht. Morgana und Andrea – so genau kann ich das jetzt auch nicht auseinanderhalten, wer wer ist … ist sie die Stärkere? Sie, die die ganze Scheiße von mir fernhält? Und alles für mich filtert? Meine „Helikopter-Zwillingsschwester“, was würde ich nur ohne dich tun (danke, meine Liebe).
Fotomontage im Stil eines 1930er Tonfilms: Schwarz-Weiß, mit leuchtendem Weichzeichner für die Kanten, leichte Filmkörnung und ein fast quadratisches 6:5 Seitenverhältnis (hier der Link zu dem ganz großen Bild).
[01.04.23 / 18:24]✎„The war on my TV“ – Bilder und Frontberichte, kämpfende Soldat:innen und vollkommen zerstörte, menschenleer scheinende Städte. Meine Einstellung, als zuschauender Beobachter, über den Krieg in der Ukraine hat sich über das Jahr verändert. Viele Jahre zuvor: Ukr:aine? Ist das nicht so ein zweigeteiltes Land, der Westen europäisch und der Osten irgendwie schon Russland? Komplett verschieden? Jahre später, 2014, ich kann nicht genau verstehen, was ich da im Fernsehen sehe und im Internet lese: Es gibt Faschisten in der Ukr:aine? Ich als Antifaschistin bin erst mal „leicht alarmiert“, verliere aber schnell die Aufmerksamkeit darauf. Die Krim wird eingenommen, merkwürdige Sache … lief anscheinend unblutig, wird schon irgendwie passen, ist nicht mein Problem. Februar 2022: Der wird niemals da einmarschieren! Und er tut es doch, schön für mich, den Kurssturz nutzen und Aktien nachkaufen, mich skrupellos daran bereichern … überzeugt, in wenigen Tagen ist die Sache vorbei. Und jetzt schaukelt sich das alles auf:
Was passiert da? Was ist das für ein Krieg in Europa? Könnte das rüberkommen? Steht der Russe bald vor der Tür? Mein Blick in mein Kleiderschrank, meine Bundeswehruniform liegt da hinten noch, der letzte Stapel, die Feldjacke und -hose in Flecktarn, zusammengefaltet ganz unten. Mir wird bewusst, wozu mein Wehrdienst vor über zwanzig Jahren eigentlich mal gedacht war – zur Landesverteidigung im Falle eines Kriegseintritts Deutschlands. Der kommt niemals bis hierher.
Ich schaue mir weiter jeden Tag die Bilder im Fernsehen und im Internet an, Kriegsreportagen und Interviews über sich aufopfernde Menschen in der Ukra:ine – die niemals auf den Gedanken kommen würden, kampflos aufzugeben und ihr mehr den je vereintes Land dem brutal und übermächtig erscheinenden Nachbarn zu überlassen. Instrumentierte Propaganda? Vielleicht … aber die menschlichen Schicksale, die ich da in den Bildern und Reportagen sehe, berühren mich. Andererseits erkenne ich auch den Wahnsinn, wie auf der gegnerischen Seite zuhauf junge, alte, schlecht ausgebildete und ausgerüstete Soldaten verheizt werden. Niemand will diesen Krieg. Doch für mich als ehemalige Soldatin, die auf dem Leopard eingesetzt war, unterstütze ich mittlerweile die Bewegung, alles Mögliche an schwerem Kriegsgerät dorthin zu liefern, um den Kampf beschleunigt zu Ende zu führen (bevor der Westen die Ukra:ine wieder fallen lässt). Es werden mehr sterben, ich bin nicht davon betroffen, ich sitze nur vor meinem Fernseher.
Manchmal zucke ich zusammen, wenn über unserem Haus wieder ein Tiefflieger vorbeidonnert. Die Alarmrotte? Die Russen sind da? Hat er uns jetzt doch den Krieg erklärt? Und schon „die Bombe“ geworfen? Jeden Tag …
[01.04.23 / 18:23]✎ Die Aktivistengruppe fährt zum Transgender Day of Visibility nach Halle. Warum sind wir hier? Ein Typ radelt vorbei, pöbelt die Leute auf dem Platz an, lässt ein paar nicht nette Bemerkungen ab. Die Polizei rät den Teilnehmenden nach Abschluss der Veranstaltung, nicht über den Marktplatz zurückzugehen, dort befinden sich auch wieder aggressiv gegen uns eingestellte Personen. Darum sind wir hier. Dafür ist unsere (irgendwie schon verzweifelt aussehende) kleine Protestkundgebung auf einem Platz in der Innenstadt von Halle.
Redebeiträge werden gehalten (oder abgespielt), mutige Menschen, es geht um die bedrohliche Situation fernab in Übersee, in den USA, wo erkämpfte trans Rechte wieder beschnitten werden, bis hin zur reaktionären Kriminalisierung der Betroffenen. Eine Welle des Hasses rollt global auf uns zu, wir wurden als vermeintlich wehrlose Minderheit für eine neue Opferrolle auserkoren und instrumentalisiert. Wer sind wir eigentlich? Weiße trans Frauen, männlich sozialisiert, einige mit militärischer Erfahrung oder in der staatlichen Exekutive tätig, an Waffen ausgebildet. Oder trans Männer aller Art, über die ich nicht sprechen und mich nicht in ihre Rolle hinein versetzen kann, bis oben dicht mit Testosteron (ein Steroid) aufgepumpt, an Nahkampftechniken interessiert – ich würde denen nicht im Dunkeln begegnen wollen (hätte ich ein Problem mit ihnen).
Wir können uns alle wehren … ist ja nicht so, dass wir uns gleich auf einen Krieg vorbereiten (dazu mein anderer Artikel), so einfach lassen wir uns nicht „verschwinden“. Eine Gedenkminute für all die getöteten trans Menschen. Meine Gedanken gehen an die eine trans Frau, die ich nie kennenlernen durfte, die ihren politischen und gesellschaftlichen Kampf nur mit ihrem eigenen Tod zu Ende bringen konnte. Zeit für Rambo-Sprüche: „Fangt keinen Krieg mit uns an, den ihr nicht gewinnen könnt!“
das habe ich sehr gerne gemacht. Zum Einen interessiert mich das Thema und zum Anderen hast Du wirklich sehr lebendig und spannend geschrieben. Da wollte ich Alles lesen und wollte Dir schreiben, das mir Dein Blog besonders gut gefallen hat (Die eigentliche Arbeit hattest Du ja mit dem Verfassen des Blogs). Wenn Du magst können wir den Kontakt gerne per Mail halten. Viele Grüße Daniele
Morgana LaGoth: Mail-Adresse steht oben bei "kontakt" - bei weiteren Fragen, gerne.
[30.07.20 / 12:44]Daniele1992: Guten Morgen,
vielen Dank für Deinen tollen Blog. Ich habe ihn in den letzten Wochen komplett gelesen. Meistens konnte ich gar nicht aufhören zu lesen. Fast wie bei einem sehr spannenden Roman. Ich habe dabei Deine genauen Beobachtungen und Beschreibungen sehr genossen. Deine vielen Ausflüge in die Clubs und zu den Festivals oder Deine Streifzüge d durch die Geschäfte beschreibst Du immer aus Deiner Sicht sehr anschaulich und spannend. Ich kann das sehr gut nachvollziehen, das alleine zu erleben, häufig auch mit einer gewissen Distanz. Ich kenne ich von mir sehr gut. Highlights sind Deine Reiseberichte. Deine Erlebnisse an den unterschiedlichsten Orten auf der Welt. Vielen Dank dafür. Vielen Dank auch das Du Deinen Weg zu Deinem waren Geschlecht mit uns Lesern teilst. Deinen Weg Deine Gefühle Deine zeitweisen Zweifel. Das ist sehr wertvoll auch für uns Andere, denn es ist authentisch und sehr selten. Du bist einem dadurch sehr vertraut geworden. Für mich ist eine gefühlte grosse Nähe dadurch entstanden. Umso mehr schmerzt es mich von Deinen Rückschlägen zu lesen. Von Deinem Kampf zu Deinem wahren Ich. Von Deinem Kampf umd Liebe, Zährlichkeit und Akzepzanz und Anerkenung. Von Deiem mitunter verzweifeltem Kampf nach Liebe und Anerkennung durch Deinen Exfreund. Leider vergeblich. Dein Kampf um wirtschaftliche Unabhängigkeit und Deine aktuell missliche Lage. Ich glaube dass Du nicht gescheitert bist. Du hast viel Mumm und Hardnäckigkeit bewiesen Deinen Gang zu Dir selbst zu gehen. Du hast auch einen guten Beruf der immer noch sehr gefragt ist. Vielleicht kann ja nach dieser Auszeit und etwas Abstand ein Neuanfang in einer anderen Firma, wo Du keine Vergangenheit als Mann hattest gelingen. Ich wünsche das Dir ein Neuanfang gelingt und drücke Dir ganz fest die Daumen. Daniele
Morgana LaGoth: Da liest sich tatsächlich jemand alles durch? Das ist mittlerweile schon ein kompletter Roman mit mehreren hundert Seiten! Danke dir, für deinen Kommentar (und die aufgebrachte Zeit).
[05.10.19 / 17:11]Drea Doria: Meine liebe Morgana,
bin 5 T post all-in-one-FzF-OP. Deine guten Wünsche haben geholfen. Der Koch ist immernoch noch super. Alle hier sind herzlich und nehmen sich Zeit.
Herzlich
Drea
Morgana LaGoth: Dann wünsch ich dir jetzt noch viel mehr Glück bei deiner Genesung!
vielen Dank für Deine offenen und kritischen Erlebnisberichte. Ich bin in 3 Monaten in Sanssouci zur FzF-OP. Ich denke auch, was kann schon schief gehen, status quo geht nicht und irgendwas besseres wird wohl resultieren. Wenn es Dich interessiert, halte ich Dich informiert. Drücke mir die Daumen.
Herzlich
Drea
Morgana LaGoth: Ich wünsche dir für deine Operation viel Glück. (Sollte der Koch nicht gewechselt haben, das Essen da in der Klinik ist richtig gut!)
[14.11.17 / 20:13]Morgana LaGoth: Nutzungsbedingungen für die Kommentarfunktion: Die Seitenbetreiberin behält sich das Recht vor, jeden Kommentar, dessen Inhalt rassistisch, sexistisch, homophob, transphob, ausländerfeindlich oder sonstwie gegen eine Minderheit beleidigend und diskriminierend ist, zu zensieren, zu kürzen, zu löschen oder gar nicht erst freizuschalten. Werbung und Spam (sofern die Seitenbetreiberin dafür nicht empfänglich ist) wird nicht toleriert. Personenbezogene Daten (Anschrift, Telefonnummer) werden vor der Veröffentlichung unkenntlich gemacht.