Meine Präsentation vor dem großen Fernsehbildschirm im Büro auf Arbeit muss ich exakt um 15 Uhr abbrechen, die Kollegen im Software-Team waren sowieso schon im abschweifenden Dialog ohne mich.
[16.02.25 / 20:18] ✎ Meine Präsentation vor dem großen Fernsehbildschirm im Büro auf Arbeit muss ich exakt um 15 Uhr abbrechen, die Kollegen im Software-Team waren sowieso schon im abschweifenden Dialog ohne mich. „Sonst verpasse ich noch meinen Zug in einer Stunde.“ Punkt 15 Uhr ist die Kernarbeitszeit den Freitagnachmittag zu Ende. Schnell zu meinem Auto auf dem Firmenparkplatz, schnell den Weg nach Hause – die dreißig Minuten habe ich die letzten Tage schon eingeübt. Die Sachen, die ich den Abend für das Konzert in Leipzig tragen will, habe ich schon an, nur die schwarz-graue Skinny-Jeans, die schwarze Kaschmir-Strickjacke und die absatzlosen 22-Loch-Schnürstiefel, dazu mein schwarz-grauer Mantel, das schwarze Wollbarett und die warmen, schwarzen Handschuhe. Es wird eisig kalt, das zweite Wochenende im Februar.
Ticket für das Konzert, schon lange vorher im Internet gebucht, das Auto in die Garage parken, die Treppe hoch zu meiner Wohnung, die fertig gepackte Tasche greifen und zum Bahnhof laufen … der nur fünf Minuten zu Fuß entfernt ist. Wenn ich den Zug um 16 Uhr schaffe, wenn der auch wirklich fährt, dann kann ich schon gegen 19 Uhr in Leipzig in der Innenstadt sein und rüber zu dem Hotel laufen. Das Konzert mit der Electro-Gothic-Band ist in der Moritzbastei, das Hotel, das ich die letzten Abende einfach noch schnell mit dazu gebucht habe, nicht weit entfernt davon. 16 Uhr nochwas, ich steige in den Regionalzug in meinem sachsen-anhaltinischen Provinzkaff.
Schreibe ich ihm eine Nachricht, dass ich wieder in Leipzig bin? Gedanken, während die Dunkelheit hinter den Abteilfenstern an mir vorbeirauscht. Ich habe mich entschlossen, ihm dieses Wochenende keine Nachrichten zu schreiben. Keine Zeit für ihn, ich bin nur in Leipzig für eine Nacht, für das Konzert, nichts anderes, nicht Ausgehen, nur wieder um Mitternacht zurück sein, ein paar Stunden schlafen, wieder in dem Hotelzimmer aufwachen, frühstücken und zurück zum Bahnhof laufen, ich muss den Sonnabendmittag schon woanders sein.
Der Zug ist pünktlich, dicht eingepackt, laufe ich kurz nach 19 Uhr den Freitagabend die Innenstadt von Leipzig entlang, zu dem Hotel am Augustusplatz, hier war ich noch nie. Zeitlich ist alles von mir akkurat geplant: Einchecken, eine Dusche nehmen, schweres Parfüm auftragen, den Kajal und den schwarzen Mascara nachziehen, alles erst mal so im Hotelzimmer auf das Bett werfen, die Sachen, die ich den ganzen Tag getragen habe, so wieder anziehen und im eiligen Schritt rüber zur Konzertlocation laufen … die Menschen da vor mir an der Hotelrezeption kommen nicht klar und blockieren die beiden Rezeptionistinnen. Um 20 Uhr ist Einlass, ich habe es eilig! Ich bin dran, den sündhaft teuren Preis ignoriere ich, das Frühstück buche ich einfach noch mit dazu (obwohl ich wüsste, dass ich wesentlich günstiger frühstücken könnte, bei der Leipziger Bäckerkette gegenüber).
Weiter in meinem Plan. Mein Atem kondensiert, es ist kalt. Die Treppen runter zur Moritzbastei sehe ich schon, wo ist der Eingang heute? Unten. Am Einlass mein Ticket zeigen, den wegweisenden Handgesten folgen, den armen Mann, der die Tickets für eine andere, parallel stattfindende Veranstaltung prüft, mit überflüssigen Fragen in Anspruch nehmen. „Wo ist meine Veranstaltung? Ah da, den Wegweisern folgen. Gab es hier nicht mal eine Garderobe? Früher jedenfalls.“ Garderobe wieder zurück in die andere Richtung, meine Orientierung in dem Kellergeschoss der alten Festung setzt erst sehr langsam wieder ein. Die Cafeteria entlang zu dem Veranstaltungsraum, endlich den richtigen Menschen mein Ticket zeigen. War das hier nicht alles mal viel größer? Das Gewölbe mit der kleinen Bühne am hintersten Ende hatte ich viel größer in Erinnerung.
Ich stehe erst mal ganz hinten, hinter mir der grüne Schein des abgedeckten Notausgangs. Ich beobachte die Menschen, die nach und nach dazu kommen und den Bereich vor der Bühne füllen, alles schwarzes Publikum, alle … unglaublich alt? So viele alte, zerknautschte Gesichter, graue Haaransätze der Herren, gemütliche Figuren und Kleidungsstil der Damen, gruftige Schönheit überall, aber das ist eine reine Ü40-Veranstaltung? Wenn nicht sogar schon Ü50. Bei den Trad-Goths gibt es wenigstens vereinzelt noch Nachwuchs, aber die Electro- und EBM-Fangemeinde ist wirklich alt geworden. Cyber-Goths gibt es auch noch.
Bin ich auch so alt? Ich will es nicht wahrhaben.
Die Vorband, der eine Typ da oben auf der Bühne, mit Sonnenbrille und Wollmütze, Hommage an die frühen belgischen Achtziger-EBM. Ich hätte mich vielleicht mehr weiter vorne positionieren sollen. Danach die Hauptband, für die ich eigentlich hier bin, deren Musik in meinem Autoradio vom MP3-Stick hoch und runter läuft, von denen ich bestimmt alle Alben habe (so lange gibt es die noch nicht), wenn die später am Merchandise auch ihre neue EP verkaufen, ich war extra zurück am Bahnhof noch am Geldautomaten für ein paar Euro-Scheine. Ihr Auftritt beginnt, ich stehe jetzt wirklich weiter vorne, mittendrin, und lasse mich von den Songs mitreißen.
Gebannt schaue ich, zwischen den Köpfen vor mir, auf die Bühne, die Sängerin und der eine Typ da an den ganzen Synths und Computern. Jeden Titel, den ich an den ersten Takten erkenne, begrüße ich freudig. Meine Bewegungen zu der Musik, soweit es die Enge des ausverkauften Konzerts zulässt. Viele Stücke werden gespielt, die kenne ich gar nicht. Neues Material von der EP? Ich werde es herausfinden, wenn ich mir später die neue Scheibe am Merchandise-Stand abhole.
Das Konzert geht so kurz vor Mitternacht zu Ende, die Sängerin wird erst nach zwei Zugaben entlassen. Die CD in der schwarz-weißen Papphülle, auf die ich am Verkaufsstand mit meinem Finger gezeigt habe, ist schon gut weggepackt in der Reißverschlusstasche meiner kleinen, schwarzen Handtasche. Blick auf die Uhr, es ist 23:45 Uhr, ich sitze an einem Tisch in der Cafeteria des Festungskellers, um mich herum noch viele schwarzgekleidete Konzertbesucher. Gibt es hier noch etwas zu essen? Ich habe seit Mittag nichts mehr gegessen. Die Bedienung räumt die Tische ab und verneint meine Frage, die Küche ist schon längst zu. Dann eben woanders hin, in die Leipziger Innenstadt. Ich gehe wieder zur Garderobe und ziehe mir alle Schichten meiner warmen Winterkleidung an, inklusive der gar nicht so gruftigen, olivgrünen Steppjacke als Innenfutter.
Die Straßen der Leipziger Einkaufszone entlang, der Schein der gelben Laternen und der Schaufenster der geschlossenen Läden. Ich weiß, wo ich um kurz vor Mitternacht noch etwas Warmes zu essen finde. „Da gab es doch diese Gerichte auf der Menükarte, die mit so einem Halbmond gekennzeichnet waren. So Snacks und Baguettes. Gibt es die immer noch?“ Die junge Frau hinter dem Bartresen schaut mich fragend an und gibt mir zu verstehen, dass es schon um fünf Minuten vor Mitternacht ist, aber sie fragt in der Küche nach. Die zerfledderte Menükarte gibt es immer noch, ich bin in meiner alten Lieblingsbar am Leipziger Marktplatz kurz vor der Gasse mit den vielen Bars. Wenig später, eine riesige Platte an Kartoffelspalten wird mir serviert, mit Sour Cream, damit es nicht ganz so trocken ist. Ich wechsele vom Barhocker an der Theke rüber auf einem anderen Platz mit Sitzgelegenheiten.
Die Bar war mal mehr besucht, laute Engländer fallen mir als einziges auf. Vielleicht liegt es daran, dass heute nur Freitag ist. Ein Mann sucht das Gespräch mit mir und fragt mich, ob ich aus Leipzig komme und ein paar andere Clubs und Bars hier kenne. „Ich wohne zwar nicht mehr hier … aber da drüben wäre noch eine Disko (oder war zumindest mal eine), dann den Weg hier bis zur Straße und dann weiter und irgendwo dahinter (da ist oder war noch eine), oder die Straße hier entlang, da gibt es so eine Gothic-Disko, oder“, ich zeige mit meinem Finger auf den Fußboden unter mir, laut wummernde Bässe sind schon zu hören, „Hier unten ist auch noch mal eine Disko drin, aber die ist nicht so für jedermann, vielleicht gefällt sie euch gar nicht, müsst ihr mal am Eingang da unten, runter an der Treppe, gucken.“ Er gibt an, mit seinem Kumpel für dieses Wochenende in der Stadt zu sein – den sehe ich aber gar nicht – ich helfe soweit ich kann und erzähle ihm alle meine Ausgeh-Tipps. Wenn er wirklich richtig ausgehen will, muss er viel weiter weg, in die Südstadt, oder Connewitz, oder Plagwitz. Erst Tage später überdenke ich die Situation … hat er wirklich nur einfach gefragt, oder wollte er gezielt mich ansprechen? Ich bin für so etwas blind.
Den Mitternachtssnack habe ich bis auf den letzten Krümel Kartoffel aufgegessen. Ein Uhr nachts, ich laufe schon wieder die verlassene Einkaufsstraße in der winterlichen Kälte entlang zu dem Platz mit der Oper und rüber über die mehrspurige Hauptverkehrsstraße an der Ampelkreuzung zum Hoteleingang. 1:15 Uhr, das Make-up aus dem Gesicht wischen, kurz Zähne putzen, meine Sachen überall in dem kleinen Hotelzimmer verstreut deponieren, noch ein paar Stunden mit Oropax schlafen, bis zum großen Frühstücksbuffet oben auf der siebten Etage mit dem Blick auf ganz Leipzig und der aufgehenden Sonne.
Sonnabendvormittag, irgendwann zwischen 9 und 10 Uhr, das Frühstücksbuffet ist wirklich sehr umfangreich, Berge an Brötchen, Croissants, Kuchen, Marmeladen, Obst, Joghurt, Frühstücksei und Kaffeetassen und Orangensaftgläsern türmen sich auf dem kleinen Tisch, der so wie die anderen eingereiht ist, in einer Linie mit den Blick aus dem Fenster und den Hausdächern und Hochhäusern von Leipzig. Das Frühstück ist so umfangreich, als ich um kurz nach zehn Uhr nach dem Auschecken zum Bahnhof laufe – für die in wenigen Minuten abfahrende S-Bahn nach Halle habe ich schon gar keine Zeit mehr für den Ticketautomaten und fahre die ersten Stationen schwarz. Erst beim Umsteigen Richtung Flughafen ziehe ich am Gleis ein Ticket. Es geht über Halle in den Norden von Thüringen, dort werde ich in einer Kreisstadt wieder von der Familie aufgesammelt und es geht weiter zu einem Feriendorf mit Bungalows mitten im Wald, gebucht für eine kleine Feier. Auch die nächste Nacht verbringe ich nicht zu Hause.