Die alljährliche Halloween-Party, der alljährliche Halloween-Dress – mein Glitzerkleid, es hängt nur für diesen einen Zweck auf der Kleiderstange neben dem Schrank (und den ganzen Motorradklamotten) in meinem Ankleidezimmer.
[02.11.24 / 18:51] ✎ Die alljährliche Halloween-Party, der alljährliche Halloween-Dress – mein Glitzerkleid, es hängt nur für diesen einen Zweck auf der Kleiderstange neben dem Schrank (und den ganzen Motorradklamotten) in meinem Ankleidezimmer. Das Ticket für die Party habe ich schon länger im Internet gebucht, sie wird wieder organisiert von derselben Truppe, die auch das kleine Gothic-Festival zu Pfingsten in Leipzig am Connewitzer Kreuz organisiert. Ich kenne die Location, ich kenne die Leute, so bekannte Gesichter vom Sehen – und sie erkennen mich auch schon, wenn ich wieder an der Eingangskasse auftauche. So viele Jahre gehe ich da schon hin.
Die Party ist für den Mittwochabend kurz vor dem freien, langen Wochenende geplant, ich kann dann vier Tage lang ausschlafen, ich muss nur den Mittwoch noch früh aufstehen, zur Arbeit gehen, früh wieder in den Feierabend gehen, nach Hause fahren, eine Dusche nehmen, mich umziehen und zum Bahnhof laufen. Ich nehme den Zug – und fahre frühmorgens von Leipzig aus wieder zurück. Die Hotelkosten für meine nächste Urlaubsreise waren so exorbitant hoch – es wird ein Luxusresort in Thailand – da sind weitere Hotelübernachtungen für meine Party-Trips quer durch Deutschland nicht mehr im Budget. Ich muss sparen … zweiter Monat im Dispokredit.
Das Regionalticket ziehe ich mir den späten Nachmittag am Automaten im Zug. Wechsel-Outfit für die Nacht und die Fahrt nach Leipzig: die hohen, schwarzen Wildlederstiefel (die, die ich schon in Kalifornien am Strand anhatte), die superbequeme, schwarze Yogahose, mein kariertes Wollröckchen, mein schwarzer Kapuzenpullover mit schwarzen Unterhemd drunter, und meine schwarze Lederjacke, die Punkerkutte. Das mit Pailletten besetzte Glitzerkleid habe ich sorgfältig in mehreren Lagen Stoff eingerollt in meiner großen, schwarzen Lederhandtasche verstaut, das kombiniere ich später mit der schwarzen Clutch, die auch mit eingepackt in meiner vollgestopften Handtasche liegt. Als „Übernachtungszeugs“ habe ich nur meine Zahnbürste mit eingepackt, ich glaube nicht, dass ich irgendwo noch angesprochen werde oder dass etwas passiert. Make-up habe ich dabei, ich werde mich dann im Club auf der Toilette schminken und mein Kleid auspacken.
Der Regionalzug nach Leipzig, für den ersten Verbindungsteil hatte ich schon Bedenken, so viele junge Soldaten in Uniform, ein Lächeln in meinem Gesicht, kenne ich das doch von mir selbst noch von früher (aber ich bin in zivil von der Kaserne zurück gereist). Der zweite Verbindungsteil, früh einsteigen sichert einen Sitzplatz … langes Wochenende. Zeit vertreiben auf dem Smartphone … Solitaire.
Leipzig erreiche ich gegen 20 Uhr, um die Zeit soll auch schon der Einlass am Club sein. Im Regio-Ticket inbegriffen ist auch der Nahverkehr und die Straßenbahn. Wenige Schritte aus dem Hauptbahnhof raus steige ich schon in die Linie Richtung Süden von Leipzig. Viele junge Menschen benutzen die Straßenbahn … Party-People.
Die Absätze meiner Stiefel hauen auf das Kopfsteinpflaster, der Innenhof den dunklen Abend zum Eingang der kleinen Disco, genau wie Pfingsten. Dem Securitymann erklären, dass in meiner Tasche unter dem Beutel mit dem Kleid noch der andere Inhalt ist. Weiter hinein zur Abendkasse … die Blicke, ihr kennt mich. Oder ist es das Parfüm, das ich schon die ganze Zeit und die zwei, drei Stunden zuvor im Zug versprühe? Zwei Stöße des schweren, orientalischen Parfüms waren nicht genug den Nachmittag zuvor noch in meinem Bad, kurz nach der Dusche. Ich zeige mein Papierticket vor, ein Fingerzeig, der andere hinter mir scannt den QR-Code. Weiter hinein in den Club.
Bei der Treppe links, kurz ein Blick runter auf die Tanzfläche, laute Gothic-Musik, tanzende Lichter auf dem leeren Dancefloor, noch nicht viel los. Ich gehe auf die hell beleuchtete Damentoilette, so früh kurz nach Einlass bin ich dort ungestört, alles ist sauber und sie haben große Spiegel. Meine Tasche packe ich auf das letzte Waschbecken hinten an der Wand. Kleid auspacken, Kleid ausrollen, vorsichtig, nicht, dass sich noch ein paar von den metallisch silberfarbenen Pailletten aneinander verhaken. Meinen schwarzen Kapuzenpullover über Kreuz ausziehen, den Reißverschluss von meinem Wollröckchen lösen … zu praktisch, dass ich mich für den Rock entschieden habe, ich muss nicht noch die Stiefel ausziehen. Ich streife mein Kleid über, alles sitzt, falte meinen Pullover und das Röckchen zusammen und lege sie zurück in die große Handtasche. Von der Tanzfläche draußen höre ich einen mir vertrauten Song und summe ihn nebenbei mit: „Dead alive, Suicide drive, ’till the end of the line, yeah, yeah …“
Die Rolle mit dem Make-up auspacken. Kajal, schwarzer Mascara, der kleine Pinsel, die Bürste für die Augenbrauen. Kajal wie gewohnt gestrichelt auftragen, etwas Neues probieren, die schwarze Farbe am Unterlid mal oberhalb der Wimpern verteilen … habe ich das all die Jahre etwa falsch gemacht? Den Kajal am oberen Augenlid ziehe ich routiniert wie schon die letzten zwanzig Jahre, hier ist es egal, ob ich Fehler mache, spätestens, nachdem ich noch das Mascara aufgebürstet habe, wird die ganze schwarze Tusche mit dem Pinsel auf höchst dramatische Art und Weise verblendet. Es muss nicht perfekt aussehen, der Reiz liegt auf dem Improvisierten, dem Ich-bin-gerade-aus-einer-Gothic-Disco-gefallen. Blick mit einem Lächeln in den Spiegel, das Glitzerkleid sitzt, Make-up ist fertig, ich bin bereit für die Tanzfläche. (Ende Teil 1/2)