„Du fährst hier nicht im Dunkeln die Straße entlang!“ Ich reagiere schon etwas hysterisch, als er mit mir in seinem Auto nach drei Uhr nachts den Sonntag Morgen die Straße durch den tiefsten und dunkelsten Wald fährt, auf der Suche nach einem noch tieferen und dunkleren Waldweg, fernab von aller Zivilisation, um ungestört mit mir für ein, zwei Stunden allein zu sein.
[04.06.24 / 22:47] ✎ „Du fährst hier nicht im Dunkeln die Straße entlang!“ Ich reagiere schon etwas hysterisch, als er mit mir in seinem Auto nach drei Uhr nachts den Sonntag Morgen die Straße durch den tiefsten und dunkelsten Wald fährt, auf der Suche nach einem noch tieferen und dunkleren Waldweg, fernab von aller Zivilisation, um ungestört mit mir für ein, zwei Stunden allein zu sein. Er, ist meine neuste Bekanntschaft, ein Motorradfahrer, den ich den Nachmittag zuvor auf einem Biker-Festival kennengelernt habe, noch immer betrunken und fest davon überzeugt, fahren zu können. Ich dagegen sitze bereits nackt auf dem Beifahrersitz, von den Minuten zuvor, und bin vollkommen nüchtern. „Glaub mir, ich kann fahren!“ Wenigstens war sie angeschnallt. Gehe ich in meinen Gedanken alle möglichen Szenarien durch, wenn sie mich dann später aus dem Auto schneiden, umwickelt an dem nächsten Baum auf dieser verlassenen Straße durch den Wald. Springe ich raus? Zu schnell, er fährt bereits Achtzig. In Motorradklamotten vielleicht, aber ich bin nackt. Ach du Scheiße, so fangen immer die ganzen Sonntag-Abend-Krimis an!
Den frühen Sonnabend Nachmittag zuvor in meiner Garage, ich wickele eins von diesen saugstarken Küchentüchern um die Vorderradgabel von meinem Motorrad mit der Feder drin und fixiere es mit einem Kabelbinder, in Purpur, passt super, um das austretende Öl zu binden. Freudig, trotz des bevorstehenden Werkstatttermins doch noch fahren zu können, ziehe ich mir meine Motorradkombi über und starte das Motorrad. Ich will zu der Brücke, von der ich weiß, dass die, wie jedes Jahr, ihre Ausfahrt darunter durch machen. Wenn ich schon nicht mitfahren kann, wegen dem defekten Simmering an dem Gabelholm und dem Öl – und weil mir das dann doch zu bedenklich ist in der Gruppe – will ich wenigstens zu dem Aussichtspunkt mit dem guten Blick auf die Bundesstraße darunter fahren und mir die vorbeibrausenden Motorräder ansehen … und dann später selbst zu dem Biker-Festival fahren, solo.
Auf der Brücke, ein schattiges Plätzchen, ein hohes Gebüsch. Die Stunde Wartezeit vertreibe ich mir mit den Gedanken, ob ich mein Motorrad außerhalb geschlossener Ortschaften wirklich so auf dem Seitenstreifen parken kann, viel Verkehr ist hier nicht. Eine „gefährliche“ Kurve zur Brücke über die Bundesstraße hin. „Auf die habe ich gewartet, das sind die mit den Warnwesten, die fahren immer voraus!“ Ein älteres Pärchen ist mit dazu gekommen und will auch Fotos oder Videos von der Ausfahrt machen. Ich erkläre ihnen, dass es jetzt gleich losgeht.
Hundert, zweihundert Motorräder, vielleicht dreihundert? Nicht die Menge, wie letztes Jahr, da waren es definitiv mehr. Ein nahendes Gewitter die letzten und die nächsten Tage hat einige davon abgehalten, die größere Anfahrt zu unternehmen. Ich winke ein paar Mal von oben zu. Nachdem alle durch sind, Aufsitzen. Ich fahre los, der Gruppe hinterher und hole sie erst zwanzig Kilometer weiter bei dem allerletzten Dorf kurz vor Ende der Ausfahrt zum Biker-Festival ein. Auffahren auf das Gelände und Parken meines Motorrades auf der großen Wiese.
Mein kleiner „Reparatur-Fix“ fällt auf, das weiße Papiertuch an der Gabel. Ich komme ins Gespräch mit dem Motorradfahrer neben mir mit seiner weißen Rennmaschine, auch eine Honda. Er scheint attraktiv und auch sympathisch zu sein – könnte es mehr werden diesen Abend? Er erzählt viel, vielleicht auch etwas zu viel, ich kann gar nicht immer alles sagen, was ich will. Wir verbringen die nächsten Stunden zusammen. Weiter zu „Kaffee und Kuchen“, dafür bin ich hier. Wenn ich sage, ich will mit ihm einen Kaffee trinken, dann meine ich wirklich: „Einen Kaffee trinken.“
Weiter den Abend, ein Gewitter zieht auf, es regnet überall, ringsherum, aber nicht auf dem Festivalgelände. Wir bringen trotzdem unsere Helme und Motorradklamotten in Sicherheit und warten den Gewitterschauer ab. „Willst du noch mit, schnell zur Tanke fahren?“ Die dunklen Wolken sind weg, er braucht noch Zigaretten, ich stimme zu und starte mein Motorrad. So viele stehen hier nicht mehr, einige haben ihre teuren Maschinen schon längst in Sicherheit gebracht.
An der Tankstelle in dem Nachbardorf tankt er auf und kauft sich die Packung. Ich nehme das Angebot an und will einmal probesitzen auf seiner Maschine. „Wie kannst du nur so fahren?“ Die Füße nach hinten, der riesige Tank vor mir, die Arme schwer abgestützt auf dem winzigen und niedrigen Rennlenker, halb liegend – und mit meinen Zehenspitzen in meinen Motorradstiefeln, die mit dem Absatz, erreiche ich gerade mal so den Boden. „Eigentlich will ich gar nicht mehr zurück zu dem Biker-Festival, ich wollte schon längst wieder nach Hause fahren.“ Ich fahre nicht gerne im Dunkeln, noch ist es hell. „Ja, die anderen haben ihre Maschinen auch schon längst nach Hause gefahren und kommen mit dem Auto wieder“, antwortet er mir, „Lass uns das doch auch machen.“ Klar, warum nicht, schnell das Motorrad in die Garage bringen, die Lederkombi in die bequemen Sachen wechseln, der Kapuzenpullover vom letzten Pfingsten zwei Wochen zuvor und das schwarze T-Shirt vom Merchandise-Stand mit dem weißen Skelett. „Du kommst doch wieder, oder?“ So ganz traut er meiner Zusage noch nicht. Wir tauschen die Nummern aus.
Den Weg hin und zurück, mit dem Motorrad in die eine Richtung und mit meinem roten Roadster wieder in die andere Richtung, sehe ich die ganzen Pfützen auf den Straßen und wo es geregnet hat. Ein Nebeldunst zieht auf, ich will noch vor Sonnenuntergang und Dämmerlicht mein Auto wieder auf dem Parkplatz vor dem Festivalgelände in diesem kleinen Dorf irgendwo im Nirgendwo parken. Es stehen kaum noch Motorräder hier rum, dafür um so mehr Autos.
Eine Band spielt, leider ihr letzter Song, die habe ich verpasst. Während die nächste Band ihre Coversongs auf der kleinen Bühne spielt, warte ich auf ihn. Ich habe kein Geld mehr dabei, die nächsten Getränke muss ich mir von ihm ausgeben lassen. Meine Münzen reichen entweder für ein Wasser oder den Becherpfand, wirklich wunderschön gestaltete Becher mit dem Logo des Biker-Festivals.
Gegen 23 Uhr, ein paar Mal tanzen auf der Wiese und Umherlaufen, treffe ich ihn. Er hat mich versucht, anzurufen, aber dafür ist es hier zu laut. Wir stehen rum, wir stehen an der Bar, wir stehen auf der durch Disco-Licht beleuchteten Wiese vor der Bühne. Er scheint allein hier zu sein, kommt aber immer wieder mit Leuten ins Gespräch. Den Nachmittag habe ich von ihm schon erfahren, er hat eine Ex-Frau und ist seit mindestens zwei Jahren Single.
Die Band spielt ihre letzten Zugaben, der DJ seine letzten Songs. Meine neue Bekanntschaft bestellt an der Bar immer wieder ein Wasser für mich – und für sich ein Bier. Unterbrochen von meinen Toilettengängen, stehen wir weit nach Mitternacht an einem großen Tisch, der letzte Haufen der Betrunkenen, die nicht gehen wollen. Ich höre mir ihre wundersamen Geschichten an und bin hier wahrscheinlich die Einzige, die noch nüchtern ist.
Drei Uhr, ich ziehe das Smartphone aus meiner Handtasche: „ich werde dann mal so langsam gehen.“ Er steht wieder an der Bar unter der großen Zeltplane und unterhält sich mit den anderen Biker. Ich drehe mich weg und laufe im Dunkeln zu meinem Auto. „Hey, warte mal!“ Er folgt mir.
Sein Auto steht nicht weit, kurz vor dem Eingang auf das Gelände. Ein weißer Kombi. „Willst du mit, mit reinkommen?“ Ich hatte es überlegt, mit ihm was anzufangen, es hätte eine aufregende Nacht werden können, aber er ist betrunken? Nicht die beste Situation. Ich stimme trotzdem zu und setze mich zu ihm mit ins Auto. (Ende Teil 1/2)