Der CSD 2023 in Leipzig – Jedes Jahr stelle ich mir wieder die gleiche Frage:
[17.07.23 / 00:51] ✎ Der CSD 2023 in Leipzig – Jedes Jahr stelle ich mir wieder die gleiche Frage: Was ziehe ich an? Die schwarze Tunika mit den weiten Ärmeln? Am liebsten, ja – aber mir fehlt ein passender, schwarzer Rock, an den Hüften eng und nach unten hin auslaufend (der Morticia-Addams-Style). Meine Wahl fällt angesichts der heißen Temperaturen auf das schwarz-grüne Leopard-Kleid, dasselbe, das ich schon den Tag zuvor im Kino anhatte, dasselbe, das ich auch danach den Abend in der Strandbar an der Elbe anhatte, zusammen mit meinen italienischen Stiefeletten … Szene fehlt. Das kürzeste Kleid und die höchsten Stilettos in meinem Bestand, genau richtig für den CSD an diesem heißen Wochenende Mitte Juli in Leipzig.
Seit Tagen bereite ich mich darauf vor, seit Wochen sogar mit meinen Barfußschuhen – ich will meine Waden trainieren, damit ich wieder einen ganzen CSD auf ultrahohen Absätzen laufen kann! Im Bedarfsfall habe ich meine absatzlosen Schnürschuhe auch noch im Kofferraum … zusammen mit der Waschtasche und den ganzen anderen Übernachtungskram. Ich nehme das Auto, ich kann fahren, wann ich will, alles mitnehmen, was ich will – und – ich habe eine Klimaanlage. Soweit der Plan: nach dem Frühstück den Sonnabend losfahren, am Parkhaus am Hauptbahnhof parken, rübergehen zur Kundgebung auf dem Augustusplatz und dann die Demo mitmachen.
Was ich nicht bedacht habe, ist der Anfang der Sommerferien und die vielen Baustellen auf der Autobahn, streckenweise zieht sich alles im besten 60-km/h-Mopedtempo. Ist mir egal, ich komme an, wann ich ankomme, von der Kundgebung muss ich nichts mitbekommen. Irgendwann zur Mittagszeit in Leipzig angekommen, schlüpfe ich mit meinem Roadster in meine angestammte Parknische in dem Bahnhofsparkhaus im ersten Oberdeck. Sachen sortieren, Schuhe wechseln, Dinge im Kofferraum lassen (Jacke, Waschtasche), Dinge mitnehmen (eine Flasche Wasser in meinem Gothic-Pogo-Umhängebeutel und meine schwarze Handtasche). Mutig stolziere ich mit meinen Stilettos und meinem Leopard-Dress raus auf die Straße und hinein in das gleißende Sonnenlicht. Sonnenbrille, mein Hut und eine tiefschwarze Leggings verhindern Schlimmeres.
Die Straße entlang zum Platz an der Oper, die vielen Trucks werden beladen und vorbereitet. Interessiert notiere ich mir in meinem Gedächtnis, wer dieses Jahr alles mitfährt: die üblichen, ortsansässigen Firmen, die üblichen Parteien, die Uni und die Wagen der befreundeten CSDs und der von Leipzig selbst. Hier und da noch ein paar andere Fahrzeuge … vielleicht auch etwas für mich? Die Runde durch die aufgebauten Stände am großen Platz spare ich mir, es ist einfach zu heiß und mich zieht es in den nächsten Schatten.
Die Bäckerfiliale um die Ecke zur Fußgängerzone, eine Tasse Kaffee an einem Tisch und der Ledercouch daneben in dem überdachten Innenhof. Die Textnachrichten auf meinem Smartphone lesen … ich habe ihm wieder geschrieben, meinem Freund, Ex-Freund, Liebhaber, was auch immer. Seit Tagen stehe ich wieder in Kontakt mit ihm … er hat bereits ein Hotelzimmer in der naheliegenden Innenstadt auf meinen Namen gebucht? Ich müsste dort nur nach der Demo einchecken. Er hat meinen Wunsch beachtet, dass ich sehr wahrscheinlich eine Dusche benötigen werde, später …
Ich tauche meinen Körper in Sonnencreme, lasse keine Stelle aus, die Schultern, das Gesicht, die Arme. Das mein Silberschmuck damit Kontakt aufnimmt, ich werde sie die nächsten Tage wieder abspülen müssen. Bereit für die Demo, erhebe ich mich von der Couch und stelle mich wenig später draußen, nachdem ich meine leere Kaffeetasse in der Geschirrrückgabe gelassen habe, vor dem Eingang des Bäckers unter den schattenspendenden Arkaden mit Blickrichtung auf die Straße, in der in jedem Moment die startenden Trucks losfahren könnten. Mein Blick schweift auf den angrenzenden Augustusplatz … so viele Menschen! Es müssen mehr als zehntausend sein! Sie sind jung, sie sind bunt, sie sind friedlich und diszipliniert kämpferisch zugleich. Es könnte eine richtig gute Demo werden – trotz der ultraheißen Temperaturen (wie ich später erfahren werde, wurde die Demoroute deswegen sogar verkürzt und hätte eigentlich viel länger ausfallen sollen). Laut wummernde Bässe dröhnen um die Ecke, es geht los!
Ein Fahrzeug nach dem anderen fährt an mir vorbei … schön, dass ihr dort oben mit Wasserpistolen für eine frische Abkühlung sorgt, aber muss das sein? Auf meine frisch mit Sonnenschutz eingecremte Haut? Kontraproduktiv. Es dauert eine ganze Weile, es geht nur sehr langsam vorwärts, die große Menschenmenge, versammelt auf dem Opernplatz, bewegt sich kaum. Nach und nach, ich stehe an der Straßenecke und warte … und dann tauchen sie auf! Kommunisten mit ihren Bannern? Antifa? Der bunt-schwarze Block? Ja! Endlich wieder ein antifaschistischer Block ganz hinten! Die schönen Menschen. Für mich. Das Warten hat sich gelohnt, ich bin da und reihe mich mit meiner kleinen Trans-Pride-Flagge mit ein.
Vorbei durch den Innenstadtring, in kleinen Trippelschritten … ein mehr oder weniger angenehmes Tempo auf meinen hohen Absätzen, die Wasserflasche in meinem Umhängebeutel mit den szenefreundlichen Slogans (Scheiß Faschos) immer griffbereit. Die Sonne drückt unbarmherzig, Kampfrufe erschallen … dieser hintere Teil des Zuges fällt unter der etwas strengeren Obhut der begleitenden Polizeieskorte. Sie ist dezent, es gab in den alten Jahren mit dem queerfemministischen Block schon ganz andere Zwischenfälle. Wird dieser hintere Teil absichtlich während der Pausen in der Sonne gehalten? Verschwörungstheorie. Jeder achtet auf sich und die anderen. Vernunft lässt ausreichend Wasser mitnehmen. Wenn ich anfange, blind zu werden und Doppelbilder zu sehen, sollte ich jeden kleinsten, schattenspendenden Baum oder Laternenmast am Straßenrand mitnehmen. Habe ich mir zu viel vorgenommen? Gestern war da noch der Gedanke, die Stilettos in dem Umhängebeutel zu lassen und für die Route auf dem Asphalt die absatzlosen Schuhe zu tragen … diese liegen jetzt in diesem Moment im Kofferraum meines Autos ganz weit entfernt in einem Parkhaus, im Schatten. Kämpferisch ertrage ich diese Strapazen, in Gedanken an all die gequälten Seelen und Körper der trans Frauen auf der ganzen Welt! Ich mache das für euch, für mich, für alle! So weit dazu.
Die Demo mit der verkürzten Route biegt wieder in das enger bebaute Gebiet der Leipziger Innenstadt ein, mein Fähnchen weit erhoben im Wind, zu der Techno-Musik vom Truck am hintersten Ende der Demo. Ich schaffe auf meinen Absätzen auch das letzte Stück, die letzte Kurve, vorbei an der Straßenbahnhaltestelle am Hauptbahnhof, inmitten dieser wunderbaren Menschen um mich herum. Wieder zurück zum Startpunkt der Demo. Wie lange hat das jetzt gedauert? Ich weiß es nicht. Mein Kleid ist klitschnass, es ist voller Schweiß. Die Wasserflasche ist auf die letzten Meter leer. Die Demo ist zu Ende, die Musik klingt aus, die Menschenmenge zerstreut sich, nicht ohne den Organisatoren des letzten Demotrucks ausgiebig zu danken.
Ein kleiner Park ist neben mir. Ich schaue mich um. Der Park mit dem See hinter dem Operngebäude … Schatten vielleicht? Eine Bank? Meine Schritte werden kürzer, ich bin erschöpft. Einen Sitzplatz finde ich nicht. Ich schleppe mich weiter zu dem großen Platz mit der Bühne, den Ständen und dem Fest nach der Demo. Mit jedem Meter sitzen immer mehr junge Menschen überall herum, auf Wiesen, auf Steinen, Treppen, Geländern, Bänke gibt es hier nicht.
Der Platz mit den Ständen der Vereine und Organisationen, nichts, was ich nicht schon die letzten Jahre gesehen habe und mein weiteres Interesse erwecken könnte. Das Bühnenprogramm, was hier noch kommen könnte? Bin ich schon zu alt dafür? Ich brauche dringend eine erholende Dusche, meine zweite Wasserflasche aus dem Auto, ein schattenspendendes Zimmer, ein Bett zum Daraufliegen und Entspannen! Ich danke dir so sehr, dass du dieses Zimmer für mich organisiert hast. In schmerzhaften, winzigen Schritten schleppe ich mich in der Hitze zu dem Parkhaus am Hauptbahnhof zu meinem geparkten Auto, um meinen ganzen anderen Kram aus dem Kofferraum zu holen und weiter in die Innenstadt zu dem Hotel … nicht unweit, nur eine Seitengasse weiter, von dem Hostel das vergangene Pfingstwochenende. Für diese paar hundert Meter hin und zurück brauche ich gefühlt noch ein bis zwei Stunden. (Ende Teil 1/3)