„Vermassel mir das nicht!“, mein Spruch zu meinem Spiegelbild die ersten Tage auf der Damentoilette in der neuen Firma, als ich für einen kurzen Moment meinen Zopf öffne und meine Haare neu richte.
[14.05.23 / 01:25] ✎ „Vermassel mir das nicht!“, mein Spruch zu meinem Spiegelbild die ersten Tage auf der Damentoilette in der neuen Firma, als ich für einen kurzen Moment meinen Zopf öffne und meine Haare neu richte. Anders wie zuvor, verhalte ich mich nun professionell, optisch zurückhaltend, eher meinem alten Ich gleich – dafür so kommunikativ, wie ich es noch nie zuvor war. Immer Fragen stellen, mit in die Kantine gehen, mit in die Cafeteria gehen, zusammen einen Kaffee trinken – der hier gratis ist, soviel du willst.
Bis jetzt läuft es gut, fange ich erst mal auch an, zu programmieren, lande ich auch im „Tunnel“ und bin nicht mehr ansprechbar – aber das ist hier normal. Ich muss mich nur zusammenreißen – wenn ich irgendwo nicht weiterkomme, ewiges „Reverse-Engineering“ betreibe, endlos lange im Intranet nach nicht existenten Dokumentationen suche, irgendwann frustriert im Leerlauf rotiere … dann bin ich raus. Gefeuert. Genau das ist mir bei der letzten Stelle passiert. Auf die Kollegen zugehen! Reiß dich zusammen! Mach hier nicht wieder so eine Szene! Immer sympathisch bleiben. Manchmal habe ich keine Ahnung von den elementarsten, technischen Dingen und Begriffe, aber das fällt noch nicht auf? Dranbleiben, Einlesen … auch zu Hause später die Nacht. Wie in Japan, es gibt für mich nur die Arbeit.
Dass ich mich dieses Mal mehr mit den anderen Mitarbeitern unterhalte, ist neu. Ein Lerneffekt? Ich will die Stelle noch nicht riskieren, ich brauche das Geld, noch zwei Monatsgehälter bis zur Rückzahlung aller meiner Schulden. In meiner Phantasie entnehme ich meinen neuen Soft Skill der kurzen Phase als Web-Darstellerin, die vor der Kamera, und in den Chats mit den Männern, die ich alle nicht kenne, aber irgendwie einen Smalltalk betreiben muss, als Kunden-Akquise (vielleicht gehe ich tatsächlich irgendwann wieder online und mache das nebenbei weiter). Auf Arbeit weiß davon niemand.
Jetzt steigen die Temperaturen an, mein androgynes Erscheinungsbild mit dem weiten, schwarzen Pullover durch die Großraumbüros schreitend könnte jetzt einen mehr offensichtlicheren, weiblichen Charakter annehmen, wenn ich meine engen, schwarzen Tops trage. Der Exzentriker-Bonus durch meinen schwarz-grauen französischer-Chic-Mantel ist dann dahin. Noch ist mir keine andere Kollegin auf der Damentoilette begegnet. Vielleicht mache ich mir auch nur viel zu viel Gedanken und bemerke gar nicht, dass ich schon ein gewisses Passing erreicht habe.
Die Nächte zwischen den Arbeitstagen auf YouTube – das neue Selbstbestimmungsgesetz macht mir Sorgen. Im Kern ein guter Ansatz, aber durch die unzählig vielen Ausnahmeregelungen im aktuellen Entwurf für die Abstimmung, ein totales Desaster. Klar kannst du dann (und sollst du auch) dein Geschlecht und deinen Vornamen einfach ändern – aber was ist mit denen, die das alles schon durch das alte Transsexuellengesetz hinter sich haben? Die neue Variante mit der dringend benötigten Freiheit für die Betroffenen löst im Internet eine Hetz- und Hasskampagne aus, deren Ausmaß ich mir noch gar nicht vorstellen kann.
Ich habe Angst. Vor fast zwanzig Jahren war ich die Einzige, konnte nachts durch Leipzig laufen, war vollkommen frei und fühlte mich sicher. War froh, diesen Weg gegangen zu sein, konnte mich endlich als Frau fühlen … die, die ich schon immer war! Hassverbrechen? Transphobie? Alles Fremdwörter, kam in mein Vokabular nicht vor. Ich war einfach ich und konnte sogar mit Männern ungezwungen flirten (und so ist mein echter Name „Andrea“ entstanden). Und heute, Jahrzehnte später: „Transfrauen sind Männer.“
Werde ich jetzt wieder angegriffen? Die Damentoilette, die ich nur noch ausschließlich nach meiner Transition, viele Jahre zurück, benutze, ist als fremder „Schutzraum“ für mich ab sofort tabu? Nur weil ich anders geboren war? Nach den Hass-Videos auf „YouTube“, die ich mir masochistisch veranlagt immer wieder antue und den aggressiven Hetzern und den sogenannten Influencern darin, schon.
Wie der neue Gesetzesentwurf interpretiert wird, es zählt nicht mehr, ob du schon jahrelang den Namen und diesen dämlichen Geschlechtseintrag im Reisepass geändert hast, ob du untenherum operiert bist, oder nicht, ob du wahnsinnig weiblich aussiehst, schon ewig als Frau lebst und eine bist … nur vergessen hast, das einzutragen (oder andere Gründe) und jetzt droht ein Krieg? Pech für dich. Im neusten Entwurf dieser Vernichtungsschrift wurde der Passus mit der unbilligen Härte wieder gestrichen und du kannst dich in der nächsten Kaserne melden.
Es widert mich an, wie diese ultrarechten Video-Kommentatoren darüber entweder jubeln, oder sowieso alles vom Staat und das ganze mit dem LGBTQ+ verhöhnen, ablehnen, als nicht lebenswert betrachten. Es tut mir um die trans Frauen leid, die weit entfernt vom jeden Passing in einem Interview vor die Kamera gezerrt werden, noch einmal betonen, wie wichtig dieses neue Gesetzt ist und ihre ganzen negativen Erfahrung mit Hass und Gewalt gegen sie in der Öffentlichkeit aufzählen. Es ruft kein Mitleid bei den Zuschauern hervor. „Ihr habt es ja selbst so gewählt.“
Ich schweife ab … wie viele Prozent der Bevölkerung denken so? Den Bogen zum Anfang wieder zurückfinden … wie viele dieser nicht so netten Kollegen bin ich noch nicht begegnet? Wenn mir der erste dieser Art über den Weg läuft, wenn ich das erste Mal einen Spruch mitbekomme … es besteht die Gefahr, dass ich mich wieder komplett zurückziehe. Mein Geister-Ich steht noch als Schatten hinter mir.