"One drink for those who didn't survive the past 1 ½ years." Mein erster Discobesuch nach anderthalb Jahren.
[05.09.21 / 20:40] ✎ "One drink for those who didn't survive the past 1 ½ years." Mein erster Discobesuch nach anderthalb Jahren. Die Routine vor dem Badezimmerspiegel ist noch nicht wieder zurückgekehrt, zeitlich ist alles OK (und ich bin dann auch pünktlich am Einlaß) ... aber die Abläufe? Erst Mascara und dann Kajal? Erst Feuchtigkeitscreme im Gesicht und dann Zähneputzen - und die ganze Foundation wieder wegwischen? Irgendwie kriege ich das den Sonnabend um 21:30 Uhr doch wieder hin, die Sachen zum Anziehen habe ich den Tag schon ausgewählt, mein schwarzes Spitzenkleid aus Wien passend zu den viktorianischen Stiefeletten - die ich auch schon zuletzt in Wien anhatte. Kleid aus dem Kleiderschrank den Nachmittag zum Lüften rausgehängt, Schuhe üppig mit neuer schwarzer Schuhcreme geschmeidig gepflegt (und glänzend poliert). Den Abend kurz unter die Dusche (und dann Make-up), die Haare durchgekämmt - ein Sprühstoß Patchouli-Chanel kopfüber auf den Nacken. Kein Push-up, ich wähle einen flacheren BH. Keine silbernen Ohrringe, nur mein Armreif mit Zirkoniasteinen und mein indischer Anhänger ... speziell auf die geliebten Ohrringe muß ich verzichten, das Ohrloch rechts ist in der veranstaltungslosen Pandemie-Zeit zugewachsen und ein anderthalb Zentimeter großer Tumor versperrt den Weg (wird demnächst noch wegoperiert).
22 Uhr, ich hole mein Auto aus der Garage, es ist kalt den Septemberabend. Zusätzlich zu meiner Lederjacke habe ich noch den schwarzen Wollschal mit in meine schwarze Lederhandtasche gepackt. Im Auto auf der kurzen Fahrt nach Magdeburg gehe ich noch einmal laut alles durch: "Impfausweis - Check! FFP2-Maske - Check! Personalausweis - Check! Smartphone - Check! Geld und Portemonnaie - Check! Schal zum Umhängen für den Fußweg nach der Disko wieder zurück - Check! Wohnungs- und Haustürschlüssel? Check!" Ich glaube, ich habe alles dabei.
Magdeburg ... das letzte Mal, daß ich hier die Nächte zum Tanzen ausgegangen bin, muß ewig her sein. Jahre ... Jahrzehnte! Der Weg über die Schnellstraße in der Landeshauptstadt ist derselbe, über die ein oder zwei Dörfer davor gibt es eine neue Hochstraße als Umgehung ... die ist wirklich neu, ich schleiche auf der ungewohnten Route im Dunkeln so dahin, die Signalbaken leuchten im Scheinwerferlicht.
In Magdeburg selbst habe ich vorher im Internet nach passenden Parkplätzen gesucht: Ah, da hinten da, um die Ecke, um den Friedhof! Ja, da parke ich gerne. Der Club selbst ist im Süden von Magdeburg, in einem alten Bahnhofsgebäude (oder so ähnlich). Seitdem ich da mal aus der S-Bahn ausgestiegen bin, ist mir der aufgefallen. Die Gothic-Szene in Magdeburg ist nicht besonders groß, abgesehen von dem einen Festival 2004 und 2005 und meinen ersten nächtlichen "die Nacht ausgehen zum Tanzen" in dem anderen Club dort irgendwo in der Nähe, ist immer noch nicht viel los in in dieser Stadt. Nicht wirklich so, wie in Leipzig...
Einlaß 23 Uhr, ich bin nervös, mein Auto steht nicht weit, ich krame alles was ich brauche aus meiner Handtasche, stecke den Personalausweis, das Smartphone mit dem Impfzertifikat und meine Maske für das Gesicht in meinen Jackentaschen hin und her. Die schwarzen FFP2-Masken habe ich mir den Mittag noch extra in einer Drogerie gekauft ... die weißen Filterdinger wären ja für den Anlaß total uncool und "ungruftig"! Überhaupt nicht Gothic. So viele schwarze Gestalten (und modekritische Blicke) stehen jetzt aber nicht am Eingang. Nur so ein paar, wie ich, Ältere eben. (Die, die altersgemäß schon in der Risikogruppe zum Impfen waren?)
Einlaß gestaffelt, ich war hier noch nie, erkunde staunend die ersten Meter hinter der Tür - OK, so groß ist der Club nicht, aber es gibt zwei Tanzflächen und ultraviel Nebel ... in dunkler Beleuchtung! Könnte passen! Meine schwarze Gesichtsmaske fällt als erstes, es besteht keine konsequente Tragepflicht, noch keine Amsterdam-Zustände (erst wenn die Zahlen den Herbst und Winter wieder steigen, nachdem alle mal kurz die Nächte frei und voller Leben ausgehen konnten). Getränk an der Bar, Reißverschluß der Gothic- und Punkerkutte öffnen, Buttons und Patches in der wechselnden Farbbeleuchtung anstrahlen lassen, im Nebel versinken und den ersten Titel tanzen. So bizarr! Die Nacht vorher habe ich mir schon ausgemalt, welche Titel ich als DJane spielen würde, welche mir so vertraut sind, welche mich anfangen lassen, zu tanzen. "Sleeper In Metropolis" - Anne Clark. Ich bin so euphorisch, voller Glücksgefühle, ich muß meinen "Status" online in dem Messenger auf dem Smartphone verbreiten.
Die Getränkekarte (oder Bon) füllt sich die nächsten zwei Stunden mit gestanzten Löchern, ich bestelle nach und nach eine alkoholfreie Cola nach der anderen. Die zweite kleine Tanzfläche ist jetzt auch offen, ich wechsele durch die vernebelten Gänge hin und her. Einmal werde ich auch angequatscht, aber ich lasse mir kein alkoholhaltiges Getränk ausgeben. Sorry, für dich. Ich suche die kleinen Toiletten im Keller (unisex?), sitze mal auf einer Art Couch (sofern ich das im Dunkeln erkennen konnte), stehe mal draußen vor dem Eingang mit den anderen Rauchern, verpasse innen wieder einen guten Titel (entweder von Mephisto Walz oder Skeletal Family - jedenfalls eine Band von meinen Buttons an der Jacke) und starre dann doch wieder in der Sitzecke einsam auf mein Smartphone ... die Plätze neben mir sind (manchmal) frei. Die Gedanken hängen an meinen Ex-Freund ... jede meiner vermissten Ex-Liebschaften, zu denen der Kontakt abgebrochen ist, ist für mich automatisch gleichbedeutend wie tot. Höchstwahrscheinlich ist er in der Pandemie und der depressiv machenden Isolation an Alkohol, Sucht und Drogen draufgegangen - und hat es nicht überlebt.
2:30 Uhr, draußen ist es wirklich kalt geworden. So viele Gäste sind hier nicht mehr in der Gothic-Tanzveranstaltung (das Alter). Auch ich wollte nicht länger bleiben und zeitig wieder die Nacht auf den Sonntag zurückfahren. Nach 18 Jahren Tanzen hält das kleine Nietenhalsband mit dem Druckknopf-Verschluß nicht mehr an meinem Stiefel. Es versinkt in der Handtasche, ich ziehe draußen vor dem Eingang des Clubs stattdessen meinen schwarzen Schal aus meiner Lederhandtasche, wickle ihn wärmend um meinen Hals, prüfe die zugezogenen Reißverschlüsse an meiner Jacke und stiefele in meinen Absätzen meinem geparkten Auto entgegen. Den Club kann ich mir merken - aber alleine ist doof.
Mein roter Roadster auf dem Parkplatz am Friedhof - und er ist immer noch nicht aufgebrochen (entgegen der schlimmsten Befürchtungen meiner Eltern). Die Straße zurück zu meinem Wohnsitz, die Straßen im Schein der Laternen durch Magdeburg, die ich mit meinen Vorgängerautos schon vor zehn oder zwanzig Jahren nach der Disko zurückgefahren bin, die Ausfahrt an der Schnellstraße, der Weg im Dunkeln durch die kleinen Ortschaften, die Straße zurück in das Wohnkaff. Als Jugendliche warst du hier echt aufgeschmissen, wenn du nicht mobil warst. Wie haben das die Jugendlichen jetzt erlebt, als für mindestens 18 Monate pandemiebedingt alles dicht war und es nichts zum Ausgehen gab? Unvorstellbar...
Zurück in meiner Wohnung im Dachgeschoß, wie damals am laut bellenden Hund meiner Eltern im Erdgeschoß vorbeidrängeln (guter Wachhund), oben in meiner Wohnung in meinem Badezimmer vor dem riesengroßen Spiegel mein Make-up im Gesicht entfernen, meine schwarzen Klamotten auf allen Kleiderbügeln in meinem Zimmer verteilen. Der zum Jahreswechsel begonnene Umzug in die größere Wohnung unter mir, zieht sich so dahin. Hier auf diesem Dachboden habe ich schon als Siebzehnjährige gewohnt und bin ganz langsam in die Gothic-Szene abgedriftet...
4 Uhr nochwas ins Bett und Frühstück mit Kaffee dann gegen Sonntag Mittag wieder unten bei meinen Eltern.