Der dritte Abend des Online-Musikfestivals ...
[26.04.21 / 18:20] ✎ Der dritte Abend des Online-Musikfestivals ... ich hatte ja keine Ahnung, was mich da erwartet. Punkt 19 Uhr geht der Videostream los, ich bin auf die Sekunde genau pünktlich und schalte mich dazu. Die ersten DJ-Sets, die ersten Bandauftritte, alles schön. Ich will es den Sonntag Abend entspannt angehen und verzichte auf die Extras von dem Abend davor, keine Lederjacke, kein Make-up, kein Nietengürtel, kein Barhocker - nur bequem in der schwarzen Freizeitkleidung vor dem Computerbildschirm sitzen. Mit der rechten Hand das kleine Mischpult einpegeln, den Regler für die Verstärkung nach Bedarf anpassen ... nicht zu laut werden, andere Menschen in der Nachbarschaft müssen den nächsten Morgen früh zur Arbeit gehen.
Ich habe das Gefühl, die DJ- und Bandaufstellung für diese Nacht wird etwas diverser, ein paar Namen im Programm lassen darauf deuten. Den einen in der Szene bekannten Künstler kenne ich auch schon, das war 2012 bei einem Festival in Berlin. Ich stehe auch diesen Abend vor meiner imaginären Computer-Bühne mit meinem Getränk in der Hand und lasse den Auftritt auf mich wirken. Ist das live? Während das Video mit dem Konzert in irgendeinem Raum oder Wohnung oder Studio läuft, sehe ich am Bildschirm ein paar Mitglieder des professionell agierenden Teams mit Videokameras, es wird aufwendig hin und hergeschnitten (Kamera Eins, Kamera Zwei, Kamera Drei). Die Musik ist purer EBM. Alles wirkt authentisch und nah, mit Pausen am Mikro zwischen den Liedern ... und irgendwie soll noch eine Katze über die Studiotechnik gelaufen sein, aber ich habe nicht aufgepaßt (ich bin zu beeindruckt von dem ganzen).
22 Uhr, meine LED-Beleuchtung geht an - im tiefdunklen Rot ... und sie wird noch die ganze Nacht in diesem schummrigen, roten Licht scheinen: "Ich habe meinen eigenen Dark Room!" Die weiteren DJ-Sets und eingespielten Live-Musikaufnahmen (ob vorher aufgezeichnet oder nicht) behalten den musikalischen Stil bei. Subversiv, schwul, knallharte elektronische Beats zu schmutzigen Synthesizer-Riffs. Mal tanze ich mich schwitzend in Ekstase vor meinem aufgebauten Stroboskop-Gewitter, mal sitze ich staunend vor dem Bildschirm und betrachte die Videokunst ... die rauhe Punk-Attitüde, mit der manchmal das Gesangsmikrofon gnadenlos übersteuert wird, widerspricht eigentlich meiner Hingabe für Perfektion in der Studiotechnik. Egal...
Die rote LED-Leiste in meinem Zimmer ist aber auch dunkel, mir wird schon ganz schlecht vom Tanzen, ich lasse mich mehrmals in mein altes, schwarzes Sofa mit der Leopardendecke fallen und wiederhole mein Mantra: "Ich habe meinen eigenen Dark Room..."
Irgendwie kurz vor Mitternacht, das ein oder zwei Stunden laufende DJ-Set mit dem Künstler, den ich einige Zeilen vorher beschrieben habe (eigentlich sind es zwei, sie teilen sich auch hier wieder die stimmungsvolle Location, das Konzert und die DJ-Technik), nimmt kein Ende ... und da kommen noch zwei oder drei Programmpunkte für den letzten Festivaltag. Du kannst doch nicht noch einen weiteren Hammer-Titel auflegen? (So lange wollte ich gar nicht wach bleiben.) Spätestens um null Uhr dreißig oder so wird mir klar, warum sich das wahrscheinlich so hinauszögert ... jetzt kommt der nächste Programmpunkt: ein DJ-Set mit BDSM-Performance.
"Ich habe tatsächlich meinen eigenen Dark Room?" Fasziniert sitze ich im Rotlicht vor meinem Computerbildschirm - ist ja nicht so, daß ich so etwas nicht schon in Leipzig (oder Berlin?) gesehen hätte (und ich habe diese Parties und diese Clubs geliebt und dort einige interessante Männer kennengelernt) ... aber hier auf dieser Streamingplattform? Es könnten Kinder zusehen! (Die hier sonst mit virtuellen Bauklötzern spielen, anderswo ist auch gerade Tag.) Im Chat-Fenster wird humoristisch über die Jugendfreigabe diskutiert.
Es folgt noch eine entspannte Ambient-Kunstperformance, die ich dankend und erschöpft von den drei Tagen entgegennehme, und das kleine Festival nähert sich so um 2 Uhr den frühen Montag Morgen dem Ende. Ein abschließender Auftritt eines Solo-Künstlers, der mich nachdenklich stimmt ... ein oder eine BIPoC im queeren Outfit mit ultrakurzem Minikleidchen, aber visuell von der Kunstinstallation her höchst anspruchsvoll. Seine oder ihre oder egal, Texte sind voller Zorn - ich wünschte, ich könnte den Inhalt verstehen. Wenn du in dem Kleidchen so auf die Straße gehst, kannst du dir nicht sicher sein, ob du die Nacht überlebst. Mir wird wieder bewußt, daß ich eine privilegierte, weiße Transfrau bin - ein Meter siebzig, zierlich und mit langen, blonden Haaren. Nicht einmal meine tiefe Stimme verrät mich, ich kann Männer mit meiner Erscheinung blenden ... würde ich mich nicht immer so ausgesprochen androgyn kleiden und an meiner weiblichen Ausstrahlung zweifeln (sie geradezu verstecken). Wäre ich riesengroß, muskulös, schwarz oder anderer dunkler Hautfarbe, sehe die Welt noch beschissener für mich aus. (Und trotzdem habe auch ich das Gefühl von Diskriminierung und Chancenlosigkeit.)
Dieser Abend und diese Nacht lief sehr überraschend und unerwartet für mich ... vielleicht kann ich die Impressionen in einem neuen Song verarbeiten, etwas mit einer Bassline unterhalb des technoiden Drumsets und einer scharfkantigen, analogen Synthesizer-Hookline.