Der CSD in Magdeburg - als einer der letzten CSDs dieses Jahr, die trotz der Pandemie noch durchgeführt werden.
[06.09.20 / 17:09] ✎ Der CSD in Magdeburg - als einer der letzten CSDs dieses Jahr, die trotz der Pandemie noch durchgeführt werden. Ich bin spät dran, mein Outfit habe ich mir zwar Tage zuvor schon gedanklich zurechtgelegt, aber bei der Entscheidung: "Handtasche oder Gürteltasche", hänge ich bestimmt 20 Minuten fest, probiere hin und her. "Ich bin eine Transe, die brauchen dabei etwas länger ... sind nie pünktlich und kommen immer zu spät!" Demobeginn ist 13 Uhr Sonnabend auf dem Alten Markt im Zentrum von Magdeburg, am Ortseingang drücke ich das Gaspedal runter und ärgere mich über den schlafmützigen Verkehr vor mir ... und gerate in eine Radarkontrolle, mit Blitz, knapp 60 km/h innerorts, präzise um 12:54 Uhr.
Mein Auto parke ich wenig später im Parkhaus des Einkaufszentrums in der Magdeburger Innenstadt (nicht, daß ich das Tempo weggenommen hätte), zu Fuß die paar Schritte zu dem Alten Markt mit dem Rathaus. Die ziemlich jungen Menschen mit den Regenbogenflaggen sind auch schon zu sehen ... geschätztes Durchschnittsalter ungefähr 20 Jahre (oder jünger). Ich laufe zu der Stelle, an der sich die Demotrucks sammeln, der CSD in Magdeburg in seinem zehnten Jahr ist eher überschaubar, vier oder fünf Trucks und bis zu 1000 Teilnehmer (es wurde von überall her mobilisiert).
Mein Outfit: mit der Jeggings und den Schnürstiefeln war ich mir schon lange sicher (ich nehme die Docs ohne Absatz, zum Latschen - aber mit purpurfarbenen Schnürsenkeln), alles oberhalb aber nicht. Bei Sonnenschein und warmen Temperaturen, das neue, grüne Kleid vom Frühjahr mit dem schwarzen Schlapphut - bei regnerischem und kühlen Wetter, mein "Trans Lives Matter" T-Shirt, die tarnfarbene Regenjacke und das schwarze Barett ... in Kombination mit dem kurzen Lederröckchen, irgend etwas zwischen militantes Auftreten und sexy Outfit (es wird dieses). Trans Liberation Army!
Die Demo startet verspätet, die paar Euro am Ortseingang hätte ich mir sparen können. Das Wetter ist bewölkt und ab und zu Nieselregen - aber die Stimmung ist top. Ich suche mir - wie immer - den letzten Demotruck in der Parade aus, den mit der besten Musik, mit DJ und Techno-Set. Der Zug setzt sich in Bewegung und kreuzt durch die Straßen von Magdeburg, die Crowd am hintersten Ende zieht ravend hinterher. Wie sehr habe ich das vermißt - endlich wieder tanzen!
Auf den Zwischenkundgebungen wird nochmal darauf hingewiesen: "Bitte alle mit Maske und Abstand." Aber der 1,50 Meter zwischen den Demoteilnehmern ist nur schwer einzuhalten, das mit der Maske sehe ich eher als Bonus - wann hat man schon die einmalige Gelegenheit, die ganze Demo vollkommen vermummt durchzuziehen? Ich unterstreiche mein militantes Auftreten mit der dicken Sonnenbrille und dem schwarz-weißen Baumwollschal unter dem Barett. Die Demo zieht weiter durch das Kneipenviertel, ein willkommener Stop, um in einem kleinen Geschäft noch schnell die nächste Ration Wasser / die nächste 0,3 l Wasserflasche zu kaufen.
15 oder 16 Uhr nochwas, der CSD ist zum Startpunkt wieder zurückgekehrt, es sind immer noch haufenweise junge Menschen dabei, auch dieses Jahr gibt es wieder ein Anschlußprogramm mit Bühne auf dem Alten Markt von Magdeburg ... nur sind es dieses Mal etwas weniger Stände - und der Stand mit den "Süßkartoffelpommes in Erdnußsoße" fehlt auch (auf den ich mich so sehr gefreut habe). Ab jetzt passiert alles zu zweit (nur meine männlichen Ex-Freunde schaffen es detailliert in meinen Blog).
Als Ersatz für die Süßkartoffelpommes muß eine Waffel mit dicker Kakao-Nougat-Creme herhalten. Das Programm auf der Bühne amüsiert mit zwei Dragqueens als Hosts (die mag ich), die Musik ist eher grenzwertig ... der eine Auftritt, den ich noch mitbekomme, ist zwar ganz OK, aber die dazwischen angespielte Musik - falsches Publikum (alle unter zwanzig). Wir verziehen uns in das nächste Kaufhaus.
In Leipzig würde ich auch gleich parallel dazu Einkaufen gehen, in Magdeburg versuche ich dasselbe, ich bin auf der Suche nach einer neuen Flasche Haarwäsche - die von meiner französischen Lieblingsmarke, zwar überteuert aber dafür Naturkosmetik und exquisit ausgewählte Inhalts- und Duftstoffe. Wiederum falsche Käuferstruktur in Magdeburg, weder das Kaufhaus mit der kleinen Parfümabteilung, noch die Drogeriekette (die es auch in Leipzig gibt) haben diese Marke im Sortiment. Abbruch der Einkaufstour, ehe wir hier noch lange herumsuchen.
Wir gehen zu dem arabischen Bistro am anderen Ende der Fußgängerzone, nicht weit von hier habe ich mal zwei oder drei Monate gewohnt, als ich 2018/19 in Therapie in der Tagesklinik war (die Wohnung meines Bruders). Sie kennt dieses Bistro auch. Mit abgesetzten Barett und Sonnenbrille (es ist total bewölkt) offenbare ich auch mehr von meiner Erscheinung ... ein bißchen Mascara in den Wimpern. Während des Essens drehen sich unsere Gespräche um das Thema Transsexualität, die Stimme, Hormone, die Operation, die Wahl des Chirurgen.
Auf meinen bestellten, arabischen Kaffee warte ich sehr lange, auf der Herdplatte neben dem Dönerspieß kann ich aber schon das kleine und dunkel gebrannte Kännchen sehen. Als mir das kleine Täßchen mit dem Kaffee endlich serviert wird, kann ich mit meinem Ritual anfangen. Der Kaffeesatz dieser Mischung mit Kardamom ist sehr dick, das Umdrehen des ausgetrunkenen Kaffees mit der abgedeckten Untertasse gelingt erst beim zweiten Versuch. Minutenlang versuche ich dann, an dem Innenrand der Tasse die Zeichen zu erkennen ... "Mein Leben, wird eine Wendung nehmen, zum Positiven hin." Ihre Tasse lese ich nicht, jemand anderen die Zukunft zu lesen, dafür habe ich noch keine Erfahrung (und auch gar nicht den Mut).
Irgendwann nach 18 oder 19 Uhr den Abend, wieder draußen. Wir gehen zurück zu dem Marktplatz, das Stadtfest des CSDs ist immer noch im Gang ... die Musik hat sich nicht wirklich verbessert. "Sei einmal im Jahr an einem Ort, an dem du vorher noch nicht warst." Sie zeigt mir den Wein- oder Biergarten um die Ecke oder hinter dem Rathaus, das kenne ich noch nicht (nur eine aufgebaute Bude mit Ausschank und ein paar Bierbänken). Ich bestelle weiterhin nur eine Flasche Wasser für mich.
Die Gespräche gehen weiter, nehmen fast schon philosophische Züge an, die Risiken einer geschlechtsangleichenden Operation, was alles dabei schiefgehen kann - und warum es doch jede von uns macht ... was wäre schon die Alternative? Tod durch Suizid. (Ich denke es nur.) Schön, wenn ich meine Erfahrungen weitergeben kann, alles zählt, um die Erwartungshaltung an das Ergebnis oder die Mystifizierung der OP etwas zu dämpfen. Über das Stichwort GaOP kommen die meisten Besucher auf meine Internetseite. Trotzdem ... das endlich operierte Areal dann im Spiegel zu sehen, ist ein wunderschönes, fast magisches Erlebnis.
Später den Abend: "Wann macht das Parkhaus zu?" Es ist schon dunkel geworden, über einen vergitterten aber noch offenen Seiteneingang irren wir über das fast leere Parkdeck. Mein Auto steht in der Tiefgarage eine Ebene nach unten. Keine Treppe, kein funktionierender Aufzug (nur einer nach oben), über die Ausfahrt zu Fuß zum Ausgang des Parkhauses. "Ich hätte doch lieber eine Toilette suchen sollen", mit zusammengekniffener Hand hinten an meinem Röckchen eile ich nach draußen. "Ach, scheiße..." Die Böschung nach oben, eine dunkle Ecke leicht abseits. Es ist noch nicht komplett zu spät, nur "teilweise" ... das kurze Lederröckchen hochgeschoben und die elastische Jeggings sind in dem Moment wahrscheinlich meine Rettung, bzw. die günstigste Kleiderwahl. Den verbliebenen "braunen Streifen" an der Unterhose decke ich mit etwas Taschentüchern aus meiner "Batman-gleichen" Multifunktionsgürteltasche ab.
"Das könnte jetzt etwas müffeln", wieder zurück in der Einfahrt des Parkhauses, wie erkläre ich so eine peinliche Situation? "Das nennt sich 'Multiple Sklerose', Harn- und Stuhlinkontinenz", mein aufmunterndes, ewig wiederholendes Mantra: "Bis zu fünfmal im Jahr in die Hose machen, hat keinen Krankheitswert!" Mir ist das aber auch peinlich. Wir gehen weiter runter in die Tiefgarage, zum Glück ist hier an der Schranke zur Einfahrt das Gitter noch nicht unten.
Mein Auto steht ganz weit woanders, auf der Suche nach der Nachtkasse mit den Automaten entdecke ich es idealerweise gleich daneben ... die Stelle mit dem Parkplatz muß ich mir merken. Ich bezahle mein Parkticket. Zurück am Auto: "Soll ich dich ein Stück mitnehmen? Ich will ja nicht, daß du (Vorsicht Fäkalhumor) da irgendwo in etwas hineintrittst." Wirklich tiefschwarzer Humor. Die Schranke nach oben, wie immer den Asphaltweg hochheizend, ich habe ihr beim Einsteigen in meinem Auto schon die ganzen Schrammen von diesem Parkhaus gezeigt: "Noch vor ein paar Jahren habe ich mich mit (und über die) transsexuellen Frauen darüber lustig gemacht - hey das passiert, wenn du Hormone nimmst!" Kratzer überall an meinem Auto von diversen und mit purer Willenskraft durchgeführten Ein- und Ausparkaktionen.
Ich lasse sie ein oder zwei Kilometer weiter wieder aussteigen, auf einem gut beleuchteten Parkplatz eines Einkaufsmarktes. Wir tauschen die Telefonnummern aus, nichts Amouröses - das ist keine von meinen Männergeschichten - im Autoradio laufen währenddessen leise die aufgenommen DJ-Sets aus dem Internet, die mit dem orientalischen Einschlag. Zurück die Nacht auf der Landstraße zu meinem Wohnort.