morgana81 - gothic transgender
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Den Wecker auf meinem Smartphone hätte ich nicht gebraucht, draußen auf dem Bahnhofsvorplatz dreht eine Kehrmaschine vor meinem angekippten Hotelfenster ihre Runden.

[16.09.25 / 13:22] Den Wecker auf meinem Smartphone hätte ich nicht gebraucht, draußen auf dem Bahnhofsvorplatz dreht eine Kehrmaschine vor meinem angekippten Hotelfenster ihre Runden. 8:30 Uhr, stehe ich jetzt schon auf? Noch etwas liegen bleiben, fünf Stunden Schlaf. Das Frühstück begehe ich genauso, wie ich es geplant habe: wenn es bis elf Uhr angeboten wird, ich um zehn Uhr da hin gehe – und mich erst danach, zurück im Hotelzimmer meiner Morgenroutine widme, dann kann ich so weit meine knappe Schlafenszeit das Festival-Wochenende optimieren, wenn ich einfach nach dem späten Aufwachen aus dem Bett falle, ein T-Shirt überziehe und die Jeans, und zum Frühstück schlurfe … besser als die andere Idee, um sechs Uhr aus der Disko fallen und das Frühstück noch vor dem Schlafen legen mitnehmen.

Es ist gebucht, es ist im Preis drin: zwei Brötchen, Croissant, Marmelade, Nuss-Nougat-Creme, Obstsalat, Bircher-Müsli, ein Frühstücksei, ein Apfel oder eine Birne, ein Glas Orangensaft, eine Tasse Kaffee … den aus dem Automaten. Genüsslich verspeise ich mein hartgekochtes Frühstücksei und lebe mein deutsches Klischee. Das ist Berlin, ich werde hier immer gefragt: „English or German?“

Den Sonnabend habe ich mir etwas vorgenommen: wenn ich schon in Berlin bin, ich will mal so eine richtige Touristen-Tour machen. Unten an der Rezeption, die haben da so ein Stapel Papierkarten in A3, ein Touristenplan, eine Straßenkarte der inneren Bezirke in Berlin und eine Karte mit den U- und S-Bahnen, mehr brauche ich nicht. Alles ist darauf eingezeichnet. Meine Route für den Tag: das Brandenburger Tor, das Holocaust-Mahnmal, der Reichstag, die Gedenkstätte der Berliner Mauer – alles Touristen-Hot-Spots – und bis auf das Tor, habe ich die alle noch gar nicht gesehen … nur im Fernsehen.

Punker-Girl geht aus, schwarze Jeans und Nietengürtel, schwarzes T-Shirt, schwarze Lederjacke, schwarze Sonnenbrille, meine kleine Handtasche und die Hi-Top-Sneakers – mit schwarzen Schnürsenkeln. Erste Haltestelle: über den Alexanderplatz mit der U- oder S-Bahn zum Brandenburger Tor … fährt hier überhaupt eine Bahn? Unregelmäßig … This is Berlin. Touris wie Einheimische bleiben entspannt. Ausstieg oben am Brandenburger Tor, das letzte Mal vor zig Jahren gab es hier noch Händler mit DDR-Devotionalien.

Touristen knipsen das Brandenburger Tor, ich knipse die Quadriga oben drauf … interessanter Fernsehbeitrag auf arte: das ist die Retourkutsche. Weiter auf die andere Seite des Tors, eine doofe, aufgebaute Bühne versperrt mir den Blick durch das Tor auf den Fernsehturm und den Ostteil der Stadt. Irgend so eine Demo mit Gaza oder so, sie wird gerade aufgebaut, die ersten Menschen finden sich ein, blaue Friedensfahnen, prominente Redner, nicht meine Partei. Ich gehe daran vorbei und versuche den größtmöglichen Abstand. Die Polizei hat alles im Griff, weit angelegte Felder von Absperrgittern trennen die Passagen von Touristenströmen und Demoteilnehmern. Ich finde meinen Weg hin zu dem in der Nähe gelegenen Holocaust-Mahnmal und dem Steinfeld.

Ich wandere durch die stummen Stelen, je tiefer ich in das symmetrisch angelegte Feld eintauche, desto mehr ergibt sich mir die Atmosphäre. Jeder Stein steht für die tausenden, ermordeten Juden. Das Feld an sich ist gar nicht so mahnend … viel bedrückender wird es unten in der Ausstellung.

Der Eingang ist oben, nur ein größerer Kubus, daneben die Treppe nach unten, nur wenige werden hineingelassen, unten soll es nicht zu voll werden, aber so viele sind um die Mittagszeit gar nicht da. Einlasskontrolle, Metalldetektoren, ein lautes Piepsen, ich lifte mein T-Shirt … Nietengürtel. Weiter hinein in die ersten Räume.

Die großen Tafeln mit der Geschichte der Judenverfolgung von 1933 bis 1945 überfliege ich … alles schon einmal irgendwo gehört oder gesehen, in der Schule behandelt, meine Großonkels hatten alle eine fesche Uniform. Interessanter und bedrückender wird es einen Raum weiter: hier sind Textpassagen hell erleuchtet in den Boden eingelassen (und ich habe immer noch die Sonnenbrille auf). Tagebuchaufzeichnungen, Briefe der Menschen, die das alles durchlebt haben … nur nicht überlebt. Emotionale Gedankenfetzen, Echos der Toten, mit den Bildern an der Wand in den anderen Räumen haben ein paar von ihnen ein Gesicht. Ich erinnere mich an die beiden, deren Porträtfotos ich in den Schredder gegeben habe. Sie bleiben in meiner Erinnerung. Ich lese die Texte, sie gehen mir nah, auch ich schreibe Tagebuch und habe meine Ängste mit dem neu aufkommenden Faschismus … ich bin als unsichtbare trans Frau die erste, die es dann erwischt.

Wieder draußen, oben auf der sonnigen Oberfläche … nicht ganz so sonnig, Wolken ziehen auf, gut so, Sonnencreme habe ich zwar dabei, aber nicht aufgetragen. Zu Fuß am Brandenburger Tor vorbei, die paar hundert Meter zum großen Reichstagsgebäude – ich will es fotografieren, ich will mal dagewesen sein, ich kenne es nur aus dem Fernsehen, die Nachrichten auf den Öffentlich-Rechtlichen. Große schwarz-rot-goldene Flaggen wehen im Wind, eine Europa-Flagge ist auch noch da. Nur eine Regenbogenflagge nicht … aber auf dem Weg, die Suche nach der nächsten U-Bahn-Station … die ist in Regenbogenfarben angemalt! Yeah … Irgendwo musste sich ja so etwas verstecken.

Eine Bahn fährt hier nicht, ich gehe wieder zurück zum S-Bahnhof am Brandenburger Tor, ich zähle mindestens drei Demos oder Kundgebungen und werde von den Polizisten durch die Absperrgitter geleitet. Mit der S-Bahn über einen Umstieg zur Haltestelle Nordbahnhof, zur Gedenkstätte der Berliner Mauer.

Tage vorher, ich habe im Internet geguckt, wo ich alles hin will. Es gibt noch Mauerabschnitte, die stehengeblieben sind, das an der Gedenkstätte beim Nordbahnhof ist der am größten erhaltene. Meine Musikszene, die Wave-, Goth- und EBM-Szene, sie ist so anachronistisch tief in den Achtzigern stehengeblieben, solche Punkte wie Kalter Krieg, Berliner Mauer und West-Berlin sind omnipräsent, die ganzen Songs von damals handeln nur davon. Ich will ein Mauer-Selfie. Ich fahre da nur hin, um Fotos zu machen, die ich so in Szene setzen werde, als wäre die Zeit und die Mauer noch stehengeblieben. Ich verfremde sowieso meine ganzen Fotos auf alt, die Film-Farbpalette, die dezente Körnung. Ich lebe das Gefühl der Underground-Szene der Achtziger. Meine Ausrede: ich fand Punks schon damals cool, als Kindergartenkind 1985.

Ausstieg am Nordbahnhof, ich hätte den anderen Ausgang wählen sollen, dann wäre ich gleich dagewesen, so irre ich auf der gegenüberliegenden Seite umher und muss mich noch mit meinem Papierfaltplan und den Straßenschildern orientieren. Dunkle Wolken ziehen auf … wird es regnen? Die ersten Tropfen treffen meine Haut … ich habe keinen Schirm dabei, nichts.

Selfie an der Berliner Mauer / September 2025 / Alter 43

Den Straßenzug mit den letzten Mauerabschnitten finde ich bald. Düsteres Wetter, ideal für düstere Selfies. Die hohe Mauer wirkt gleich noch viel deprimierender. Ich will Fotos von der Westseite machen, ich will so tun, als wäre ich in West-Berlin. Bröckelnder Mauerputz, durchscheinender Stahlbeton. Die Graffiti sind auf der Innenseite, der frei begehbaren Ostseite der Mauer. Auch hier mache ich ein paar Selfies.

Selfie an der Berliner Mauer / September 2025 / Alter 43

Es beginnt doch etwas stärker zu regnen, ich flüchte in das eine Café oder Bistro neben dem Museum. Gefühlt sechzehn Uhr den Sonnabend Nachmittag, Zeit für eine Tasse Kaffee aus dem Pappbecher und ein kleines Stück Pflaumen-Streusel-Kuchen, den größten Teil des kurzen Regenschauers habe geschützt überstanden. Eine kleine Pause.

Wieder zurück an der Mauer, das Gelände der Gedenkstätte erstreckt sich auf mehrere Abschnitte. Ein Teil ist nicht begehbar, es ist angelehnt an den städtischen Friedhof daneben, ein Sarkophag für die vielen, die auf der Flucht über die Grenze hier irgendwo erschossen worden. Auch in meiner Familie kursieren Geschichten von Jugendfreunden, die rübermachen wollten und dann ohne Spur verschwanden. Der eingezäunte Sarkophag mit dem Wachturm und dem Kiesbett wirkt noch viel mehr bedrohlicher und deprimierender. Das Feld daneben mit den dokumentierten Überresten der Grenzanlage, ich laufe es die ganze Strecke von hinten bis zur Mauer ab und stelle mir vor, wie unmöglich das zu überwinden ist. Wie ich es schon den ganzen Tag tue, jedes Mal wenn ich die Pflastersteine in den Wegen und Straßen sehe, die den alten Grenzverlauf der geteilten Stadt abbilden, ich springe in den Westteil, ich laufe nicht, ich gehe nicht, ich mache rüber.

Zurück über die S-Bahn-Station Nordbahnhof – die auch eine kleine interessante Ausstellung enthält – den späten Nachmittag zu meinem Hotel in der Osthälfte der Stadt. Am Alexanderplatz steige ich für einen kurzen Halt aus, irgendwo noch etwas essen, einen Falafelteller. Den kurzen Abstecher in ein Kaufhaus, das mit den Designer-Outlets, hätte ich mir sparen können, das frisst nur Zeit. Zeit, die ich den Abend im Hotelzimmer brauchen werde, um mich wieder ausgehfertig für die Nacht zumachen. (Ende Teil 2/3)

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Kommentar:

[05.12.22 / 17:34] Daniele1992: Hallo Morgana

Mail ist heute rausgegangen

LG Daniele

[13.11.22 / 09:33] Daniele1992: Hallo Morgana

aktuell keine schöne Situation. Ich schreibe Dir noch eine Mail dazu.

LG Daniele

Morgana LaGoth: Einige Kommentare müssen auch nicht allzu öffentlich sein …

[13.05.22 / 09:15] Daniele1992: Hallo Morgana,

Tolle Reisebericht von Deiner neusten Reise nach Paris. Macht grosse Lust auch wieder dort hinzufahren um sich von der Stadt inspirieren zu lassen.

Tolle Neuigkeiten.NeuerJob. Klasse! Freue mich für Dich.

Liebe Grüße

Daniele

Morgana LaGoth: Danke. Endlich wieder verreisen … lange darauf gewartet. Lebendig bleiben, solange es noch geht.

[24.12.21 / 20:55] Daniele1992: Hallo Morgana,

Ich denke an Dich und wünsche Dir frohe Weihnachten und ein schönes neues Jahr 2022.

Liebe Grüße

Daniele

Morgana LaGoth: Vielen Dank, ich wünsche dir ebenfalls ein schönes, neues Jahr.

[25.09.21 / 14:59] Daniele1992: Hallo,

eine Chance etwas Neues zu machen. Neue Perspektiven. Urlaubsträume, die bald real werden können. Nicht so schlecht. Freue mich für Dich. LG Daniele.

Morgana LaGoth: Danke dir.

[11.11.20 / 09:12] Daniele1992: Hallo Morgana

Ich habe Dir eine Mail geschickt.

Lg

Daniele

Morgana LaGoth: Hey ... vom Lenkrad aus mit der Hand winken, von einem MX-5 zum anderen. *freu*

[30.07.20 / 22:03] Daniele1992: Guten Abend

das habe ich sehr gerne gemacht. Zum Einen interessiert mich das Thema und zum Anderen hast Du wirklich sehr lebendig und spannend geschrieben. Da wollte ich Alles lesen und wollte Dir schreiben, das mir Dein Blog besonders gut gefallen hat (Die eigentliche Arbeit hattest Du ja mit dem Verfassen des Blogs). Wenn Du magst können wir den Kontakt gerne per Mail halten. Viele Grüße Daniele

Morgana LaGoth: Mail-Adresse steht oben bei "kontakt" - bei weiteren Fragen, gerne.

[30.07.20 / 12:44] Daniele1992: Guten Morgen,

vielen Dank für Deinen tollen Blog. Ich habe ihn in den letzten Wochen komplett gelesen. Meistens konnte ich gar nicht aufhören zu lesen. Fast wie bei einem sehr spannenden Roman. Ich habe dabei Deine genauen Beobachtungen und Beschreibungen sehr genossen. Deine vielen Ausflüge in die Clubs und zu den Festivals oder Deine Streifzüge d durch die Geschäfte beschreibst Du immer aus Deiner Sicht sehr anschaulich und spannend. Ich kann das sehr gut nachvollziehen, das alleine zu erleben, häufig auch mit einer gewissen Distanz. Ich kenne ich von mir sehr gut. Highlights sind Deine Reiseberichte. Deine Erlebnisse an den unterschiedlichsten Orten auf der Welt. Vielen Dank dafür. Vielen Dank auch das Du Deinen Weg zu Deinem waren Geschlecht mit uns Lesern teilst. Deinen Weg Deine Gefühle Deine zeitweisen Zweifel. Das ist sehr wertvoll auch für uns Andere, denn es ist authentisch und sehr selten. Du bist einem dadurch sehr vertraut geworden. Für mich ist eine gefühlte grosse Nähe dadurch entstanden. Umso mehr schmerzt es mich von Deinen Rückschlägen zu lesen. Von Deinem Kampf zu Deinem wahren Ich. Von Deinem Kampf umd Liebe, Zährlichkeit und Akzepzanz und Anerkenung. Von Deiem mitunter verzweifeltem Kampf nach Liebe und Anerkennung durch Deinen Exfreund. Leider vergeblich. Dein Kampf um wirtschaftliche Unabhängigkeit und Deine aktuell missliche Lage. Ich glaube dass Du nicht gescheitert bist. Du hast viel Mumm und Hardnäckigkeit bewiesen Deinen Gang zu Dir selbst zu gehen. Du hast auch einen guten Beruf der immer noch sehr gefragt ist. Vielleicht kann ja nach dieser Auszeit und etwas Abstand ein Neuanfang in einer anderen Firma, wo Du keine Vergangenheit als Mann hattest gelingen. Ich wünsche das Dir ein Neuanfang gelingt und drücke Dir ganz fest die Daumen. Daniele

Morgana LaGoth: Da liest sich tatsächlich jemand alles durch? Das ist mittlerweile schon ein kompletter Roman mit mehreren hundert Seiten! Danke dir, für deinen Kommentar (und die aufgebrachte Zeit).

[05.10.19 / 17:11] Drea Doria: Meine liebe Morgana,

bin 5 T post all-in-one-FzF-OP. Deine guten Wünsche haben geholfen. Der Koch ist immernoch noch super. Alle hier sind herzlich und nehmen sich Zeit.

Herzlich

Drea

Morgana LaGoth: Dann wünsch ich dir jetzt noch viel mehr Glück bei deiner Genesung!

[14.06.19 / 12:57] Drea Doria: Meine liebe Morgana,

vielen Dank für Deine offenen und kritischen Erlebnisberichte. Ich bin in 3 Monaten in Sanssouci zur FzF-OP. Ich denke auch, was kann schon schief gehen, status quo geht nicht und irgendwas besseres wird wohl resultieren. Wenn es Dich interessiert, halte ich Dich informiert. Drücke mir die Daumen.

Herzlich

Drea

Morgana LaGoth: Ich wünsche dir für deine Operation viel Glück. (Sollte der Koch nicht gewechselt haben, das Essen da in der Klinik ist richtig gut!)

[14.11.17 / 20:13] Morgana LaGoth: Nutzungsbedingungen für die Kommentarfunktion: Die Seitenbetreiberin behält sich das Recht vor, jeden Kommentar, dessen Inhalt rassistisch, sexistisch, homophob, transphob, ausländerfeindlich oder sonstwie gegen eine Minderheit beleidigend und diskriminierend ist, zu zensieren, zu kürzen, zu löschen oder gar nicht erst freizuschalten. Werbung und Spam (sofern die Seitenbetreiberin dafür nicht empfänglich ist) wird nicht toleriert. Personenbezogene Daten (Anschrift, Telefonnummer) werden vor der Veröffentlichung unkenntlich gemacht.

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