Es hätte so ein schöner Tag werden können … Sonnabend früh Vormittag aufstehen, entspannt frühstücken, Motorrad aus der Garage holen und gegen elf Uhr nach Wernigerode fahren, ein Eis essen, Pizza essen, Kuchen essen, auf dem Marktplatz sein, einen Kaffee trinken, Oldtimertreffen beobachten, alte AWOs bewundern und dann … nach einer kurzen Pause an meiner Tankstelle, den Motorradparkplatz daneben, die Toilettenhäuschen, der schattig überdachte Stand mit den Touristenbussen, noch gemächlich eine Flasche Wasser trinken.
[21.07.25 / 00:25]✎ Es hätte so ein schöner Tag werden können … Sonnabend früh Vormittag aufstehen, entspannt frühstücken, Motorrad aus der Garage holen und gegen elf Uhr nach Wernigerode fahren, ein Eis essen, Pizza essen, Kuchen essen, auf dem Marktplatz sein, einen Kaffee trinken, Oldtimertreffen beobachten, alte AWOs bewundern und dann … nach einer kurzen Pause an meiner Tankstelle, den Motorradparkplatz daneben, die Toilettenhäuschen, der schattig überdachte Stand mit den Touristenbussen, noch gemächlich eine Flasche Wasser trinken. Es ist heiß, bestimmt 30 Grad, so weit der Plan, bis siebzehn Uhr warten, dann sind die Touristen-PKWs weg und ich kann für mich alleine die Straßen nach Schierke hochschrauben … 400, 500, 600 Meter über Normalnull – und wieder abwärts ins Tal Richtung Elbingerode. Spätestens hier, fängt es unten im Bauch, ganz unten im Darm, an zu drücken und zu schmerzen. Ich sollte schnellstmöglich eine Toilette suchen.
Nach Wernigerode rein, ich verfahre mich, irre auf den engen, einspurigen Kopfsteinpflastergassen umher, finde den Weg ins Zentrum, der Kreisel mit dem großen Parkplatz und der Toilette auf der Gegenspur. Weiterfahren, wieder raus Richtung Benzingerode … irgendwo hier, noch vor dem Ortsausgangsschild von Wernigerode, war doch mal eine Tankstelle? Die, wo ich 2007 das Fahrschulmoped flach gelegt habe, die 125er. Ich passiere das Ortsausgangsschild, vielleicht die nächste Ortschaft weiter. Verdammt! Bis zur nächsten Tankstelle nach Halberstadt schaffe ich das nicht mehr. Blinker setzen, den nächsten Feldweg suchen, die Schmerzen in meinem Enddarm kommen in immer stärker werdenden, blubbernden Wellen. Ich finde einen Feldweg, steige ab, laufe zu einer mir günstig erscheinenden Stelle mitten auf dem Ackerweg, mit einem hohen Gebüsch und einem kleinen Bewässerungsgraben dahinter. Der Griff zu dem Knopf an meiner Motorradkombi – es ist zu spät! Explosionsartig verteilt sich alles um mein Gesäß und das Bein. „Ach, Scheiße!“ Warum ich? Warum schon wieder? Doch nicht die Motorradhose. „Das ist doch kacke!“ Ich verzweifele.
Ich schäle die Motorradhose nach unten, hinten den Reißverschluss der Kombi öffnen. Die zweite Welle geht wenigstens noch in das Gras am Wegrand … nicht hinein treten. Es stinkt, eine gelbe, bröcklige Brühe. „Da esse ich nie wieder!“ War es das Restaurant in Wernigerode? Der Kuchen? Der Kaffee, das Eis, die Limo? Die gelbe Farbe lässt mehr auf den Kartoffelsalat in der Kantine vom Freitag schließen, oder diese merkwürdigen „Mango-Schnittchen“, die die chinesische Kollegin für alle mitgebracht hat, die Packung mit den chinesischen Zeichen drauf. Den Morgen war ich noch froh, dass der Kantinen-Spinat vom Donnerstag raus ist.
Ich ziehe meine Motorradhose weiter aus, löse die Schnürsenkel von meinen Motorradsneaker und stelle das Paar etwas abseits daneben. Alles was jetzt passiert, mache ich in grünen Socken und nur meine Motorradjacke darüber. Die schwarze Unterhose ist nicht mehr zu retten, ich pfeffere das übel riechende Teil in den kleinen Graben vor mir. Ich habe nur eine Packung Taschentücher in meiner Jacke, die andere Packung ist in der kleinen Tasche im Gepäcknetz auf dem Motorrad. Ich laufe zurück … in Socken, die Motorradhose lasse ich da, den Helm habe ich wahrscheinlich immer noch auf.
Wieder zurück, meine Stelle auf dem Ackerweg, den Helm lege ich neben meine Schuhe, deponiere die zwei Flaschen Wasser darin. Mit den Taschentüchern versuchen, die bekackte Motorradhose sauber zu machen, versuchen, auch mich sauber zu machen. Die Handschuhe habe ich auch abgezogen, die liegen hier irgendwo im Gras.
Ein Taschentuch nach dem anderen wird wütend in das Gebüsch vor mir, den Graben runter, geworfen, es hängt wie Lametta zwischen Ästen und Zweigen. Es reicht nicht, die eine Packung ist leer, die zweite Packung Taschentücher wird leer. Was jetzt? In meiner Verzweiflung – oder auch leichter Schockzustand – ich muss zurück zu meinem Motorrad am Straßenrand und irgendwie jemanden anhalten und nach Tüchern fragen. Wieder zurück an die Straße, in Socken und schwarzer Motorradjacke – der ganze Unterkörper, meine Vulva, meine Schamhaare, alles ist frei.
Autos fahren vorbei, ein Transporter wird langsamer, hält er an? Ich winke, ich brauche Hilfe. Er fährt wieder schneller an mir vorbei. Ich muss Motorradfahrer anhalten, vielleicht sollte ich mein Halstuch an meinen Gepäckträger binden. Ein kleines Motorrad fährt heran. „Endlich! Du musst mir helfen!“ Ich springe vor meinem Motorrad hervor. Er blickt mich an, mit seinem Helm. Ihh! Die hat sich eingeschissen! Schnell weg! Kupplung springen lassen. Ich muss furchterregend aussehen, nackter Unterleib, braun verschmiert bis zum Knie, unrasierte Schamhaare, eine verrückt aussehende, wild gestikulierende, alte Schachtel … ich habe mehr ihn traumatisiert, als mich.
Der Transporter kommt zurück und biegt vorwärts auf dem Feldweg ein, es sind ein paar Männer drin in dem Miet-Transporter. „Toilettentücher, Papiertücher, irgendwas?“ Der Mann steigt ohne Worte aus, zieht die Seitentür auf und holt eine Rolle Wischpapier heraus … rollt um die zehn Blatt ab und gibt sie mir und steigt wieder ein. „Vielen, vielen Dank!“ Ich bin so glücklich in diesem Moment … immer noch halbnackt, das Schamgefühl ist das Erste, was verschwindet, in extremen Notsituationen.
Ich knie über meine Motorradhose und wische die schon antrocknende, gelbe Scheiße heraus. Das ganze Innenfutter ist verschmiert. Ich muss zwei oder drei Blätter übrig lassen, die ich mir unten herumwickeln kann, wenn ich die bekackte und engsitzende Motorradhose wieder anziehen will, ich habe noch fünfzig Kilometer vor mir. Der Strauch vor mir, den schattigen Bewässerungsgraben runter, wird immer weiter zugeworfen mit Papiertüchern.
„Meine Unterhose liegt schon irgendwo dahinten unten, das ist Baumwolle.“ Hinter mir auf dem Feldweg fahren schon die ganze Zeit ein paar Autos hin und her, ich bin denen nicht entgangen. Wenn ihr vielleicht noch ein paar Tücher habt? Eine Flasche Wasser ist schon leer, mit der zweiten Flasche versuche ich immer wieder, meine Hände sauber zu machen. Die Menschen, die hier irgendwie zelten, oder den Abend feiern wollen, oder dahinten einen Garten haben, versorgen mich mit ein paar Dingen. Eine Packung Taschentücher, das nächste Auto, ich versuche schon meine Motorradhose wieder anzuziehen, ein Blatt vorn herum, zwei Blätter hinten, der Wind versucht es wegzuwehen. „Hier, das könnte dir vielleicht helfen.“ Ein Mann bringt mir eine schwarze Unterhose und eine Jogginghose. „Die Hose ist zu viel, das passt nicht drunter“, meine Lederkombi sitzt eng, „Aber vielen, lieben Dank für die Unterhose, die nehme ich, das ist sehr nett.“ Nochmal ausziehen und die neue Unterhose drunter … schwarz ist sie auch noch. So nette Menschen, die mir einfach helfen. Sollte ich irgendwann mal in eine Situation kommen, in der ich anderen in einer Notlage Hilfe anbieten kann – einfach machen.
Die Kacke, der Haufen Scheiße, der stinkende Durchfall – kaum mehr zu sehen, ein Schwarm grün-goldgelb schimmernder Fliegen hat ihn schon für sich entdeckt … der Lauf der Natur. Alle meine Sachen zusammensuchen, nichts vergessen, meine Schuhe, mein Helm, meine Handschuhe – das letzte Auto den Feldweg, sie hatten feuchte Reinigungstücher mit dabei, das letzte bisschen Wasser aus meiner Flasche und die hohen Grashalme zum Abtrocknen, sind einfach nicht das Richtige. Meine verschmierten Hände stinken weit weniger, als ich und meine Motorradkombi, als ich wieder zum Straßenrand, an der Einfahrt des Feldweges, zu meinem Motorrad gehe, die kleine olivgrüne Tasche unter dem Gepäcknetz auf dem Soziussitz verstaue, meinen Helm aufsetze, das Bein auf die Sitzbank überschwinge und mein Motorrad starte. Später Nachmittag, schon fast Abend, die Sonne neigt sich dem Horizont, vor mir liegen noch diese fünfzig Kilometer Straße bis nach Hause, durch die goldenen Felder und die ebenso goldene Sonne neben mir.
„Da musst du jetzt durch!“ Was ein echter Motorradfahrer ist, auch mit der bekackten Kombi, die fehlenden Kilometer abreißen. Ich weiß nicht, warum die Autos hinter mir, mich alle überholen, das ist eine Agrar-Gegend, staubende Mähdrescher rechts und links, der Geruch von Schwein und Dünger auf jedem Feld … meine Geruchswolke, die ich hinter mir her schleppe, dürfte gar nicht auffallen. Die nächsten Ortschaften, wenn ich mal an einer Ampel stehe … das Gulli da neben mir, das mache ich für meine stark nach Fäkalien riechende Geruchswolke verantwortlich.
Mein Zuhause erreiche ich noch vor Sonnenuntergang. Das Motorrad ohne Umparken in die Garage fahren. Garagentor zu, Hoftor auf, weiter zur Haustür … der Hund begrüßt mich, kommt aber nicht näher, ich weiß, da ist eine starke Geruchswolke um mich herum.
Die Motorradkombi erst einmal auf der Treppe ablegen, zuallererst – eine Dusche nehmen! Endlich nackt lasse ich das Wasser über meinen Körper perlen. Gründlich abseifen mit Duschbad, das ganze bekackte Bein mit den Schmierstreifen, mein ganzes Hinterteil, bis in die tiefste Ritze.
Auch mit frisch gewaschenen Haaren und mit frischer Unterhose, stehe ich danach wieder draußen. Die Motorradhose lasse ich nicht im Haus, die lege ich draußen im Garten auf einen Stuhl. Morgen werde ich sehen, was ich damit mache. Die Lederhose in die Waschmaschine? Im Wollwaschgang? Danach trocknen lassen und richtig, richtig viel einfetten? Der ganze Aufwand, den Freitag Abend vor meiner Ausfahrt, nur vierundzwanzig Stunden zuvor – ich hatte schon meine ganze Kombi mit Lederreiniger und Lederpflege, stundenlang, viel zu verspätet, mitten in der Saison, endlich eingerieben, um in den zweiten Teil der Motorradsaison zu starten. Und jetzt kann ich nur hoffen, das meine müffelnde Motorradhose noch irgendwie zu retten ist. Ich mag die Kombi, die ist schön, die sitzt, angenehmes Ziegenleder, mit vielen praktischen Taschen, Reißverschlüssen und netten Design-Elementen. Hoffentlich kann ich sie retten … meine alten Lederhandschuhe habe ich nach einem Vollwaschgang auch wieder hinbekommen.
Der späte Abend, die Nacht, der Sonntag Morgen. Das Schamgefühl ist wieder da. Wie bin ich nur in so eine Situation geraten, warum war ich da auf dem Feldweg die ganze Zeit halbnackt? Ich hatte nichts! Keine zweite Unterhose, keine mitgenommenen Feuchtigkeitstücher – auch nicht diese eine, extra gepolsterte Unterhose mit „Windel-Funktion“. Es ist nicht das erste Mal, dass das passiert ist … ich habe mir schon so oft vorher in die Hose gemacht. Mehrere Male die Jeans, unzählige Male die Unterhose. Harn- und Stuhlinkontinenz.„Bis zu fünfmal im Jahr in die Hose machen, hat keinen Krankheitswert, das ist vollkommen normal!“ Das Mantra meiner Neurologin. Ich versuche, daran zu glauben, aber es ist nicht leicht mit Multipler Sklerose.
Ich bin den Sonntag Morgen deprimiert, ich will einfach nur sterben, ich versuche noch immer, das zu verarbeiten, was den Tag vorher passiert ist. Mein Arrangement mit der MS: sollte ich irgendwann mal nicht mehr in der Lage sein, selbstständig auf die Toilette und selbstständig, ohne Hilfe, essen zu können – dann ist es Zeit für mich, mich von den Lebenden zu verabschieden. Kein Suizid-Quatsch, ich will richtige Sterbehilfe, mit Begleitung, Rechtliches und allem drum und dran. Von meinen zwei Punkten, die dafür erfüllt sein müssen, ist einer vielleicht schon eingetroffen. Und der zweite Punkt, mit selbstständig nicht mehr essen können – sollte der eintreffen, kann ich auch selbstständig nicht mehr alles andere tun. Sterbehilfe vorziehen? So lange ich dafür noch in der Lage bin? Dann ist es doch dieser „Suizid-Quatsch“.
Den Sonntag, ich rotiere, die Motorradhose aus Leder ist noch vor dem Frühstück in der Waschmaschine im Wollprogramm gelandet, die braun-gelbe Kacke ist weg, aber leicht müffeln tut sie immer noch. Hängt draußen unterm Dach zum Trocknen. Die Familie empfiehlt ein Lederöl, das zwar drei Tage lang bestialisch stinkt, aber Wunder hilft. Was soll das sein? „Mink-Öl?“ Das vom Nerz? Angeblich sollen damit Pferdesattel eingerieben werden.
Weiter alle meine anderen Sachen, ich gehe nach und nach durch, was kontaminiert wurde. Die Schnürsenkel von den Motorradsneaker, mit in die Waschmaschine (der dritte Waschgang, in dem ich auch mein schwarz-goldenes Glitzerkleid mitwasche und danach alle anderen schwarzen Sachen „glitzernd“ wieder herauskommen), die Sneaker selbst, werden mit Desinfektionsspray eingesprüht. Die grünen Socken sind nicht mehr zu retten, die landen in der Restmülltonne, die hatten eh ein Loch. Meine Motorradhandschuhe, im Waschbecken, mit Wasser und Seife, umgestülpt, um auch an alle Stellen heranzukommen, die Lederteile werde ich irgendwann später die Woche mit Fettcreme eincremen, die nehme ich auch für mich selbst, für meine Haut. Die Motorradjacke, ich setze mich wieder auf einen Stuhl in der Küche und beginne wieder, alle Seiten, vorne, hinten, die Ärmel, mit Lederreiniger und Lederpflege einzureiben, es gibt nur ein paar kleine Abstreifspuren, als ich den späten Nachmittag zuvor auf dem Feldweg vor meiner Lederhose kniete und versuchte, mit fast schon bloßen Händen, alles herauszuwischen. Jedes Mal, wenn ich irgendwas davon sauber mache, ich wasche mir immer wieder meine Hände. Später Sonntag Nachmittag, nach einer Tasse guttuenden Hanf-Tee für meinen Darm, mein Motorrad und mein Auto in der Garage umparken … der Geruch nach Scheiße ist immer noch in meiner Nase, aber vielleicht rieche ich den nur für mich.
Fahre ich das nächste Wochenende wieder Motorrad? Fahre ich zu einem Treffen? Wieder da irgendwo das Nord-Harz-Gebiet? Ich will momentan nicht mehr raus und niemanden sehen. Es hat einen Grund, warum ich Kontakte ablehne und Menschen meide … ich will das niemanden antun, mir zu begegnen, sich mit mir auseinandersetzen zu müssen, von mir in meinen Abgrund gezogen zu werden. Ich bin nicht gut, ich bin krank, ich bin das Elend. War schon immer so, wird auch immer so bleiben. Ich versinke den Sonntag nach Mitternacht in meinem Selbstmitleid und habe den Punkt überschritten, an dem mein therapeutisches Schreiben mir hätte noch helfen können. Selbstmord, Selbstmord, Suizid! Hallo, da bist du ja schon wieder … kannst du auch wieder gehen?
Nachtrag Nummer eins den Montag Abend: Meine Motorradhose hängt in der Küche, ich habe sie komplett mit der Fettcreme eingerieben, die ich auch jeden Morgen für mich selbst da unten herum verwende, hoffentlich zieht sie in das schwarze Leder ein …
Nachtrag Nummer zwei den Dienstag: Ich wollte vor Scham in den Boden versinken … nächstes Mal – und das wird wieder passieren – behalte ich ein Taschentuch über, um damit mein „Scham-Dreieck“ zu bedecken, damit die anderen sich nicht vor mir erschrecken (und wegrennen), wenn ich sie um Hilfe bitte (oder sie sich für mich schämen).
Nachtrag Nummer drei den Mittwoch Abend: Ist die Fettcreme wirklich eingezogen, oder nur an der Oberfläche oxidiert? Die Lederhose ist fast wieder so fest, wie nach den Tag auf der Wäscheleine (draußen bei Regen, unter dem Dach). Nach der Arbeit im Schuhladen ein paar Leder-Pflegemittel gekauft: den Schaum, mit dem ich auch die raue Innenseite meiner Lederhandtasche wieder hinbekommen habe, als darin mal eine ganze, halber Liter Flasche Wasser ausgelaufen ist. Später den Abend, die Motorradhose noch einmal einreiben mit dem neuen Spray, von innen und von außen … wirkt fast wie neu.
Nachtrag Nummer vier, Tage später: Weich ist sie auch wieder geworden und schimmert seidenmatt.
[16.07.25 / 23:10]✎ Den Flyer hatte ich Pfingsten schon mit eingesteckt, Anfang Juli ist wieder das kleine Festival in dem Club in Plagwitz. Da ich das Wochenende zuvor schon kurzfristig mit dem Auto nach Leipzig gefahren bin, nehme ich für dieses Wochenende den Zug. Ganz entspannt nach Leipzig fahren, zweieinhalb Stunden nur die Landschaft vorbeiziehen lassen, mit der Straßenbahn und dem Kombiticket ohne Stress zum Club, Tanzen bis morgens – und dann wieder zurück. So weit der Plan, ich rechne alles durch, es reicht, wenn ich Sonnabend frühestens Mittag aufstehe, die Beine rasiere und mein Outfit wähle, Dusche, Make-up, die kleine Handtasche packen, bis siebzehn Uhr am Bahnhof.
Es regnet den ganzen Tag, ich will das schwarze Spitzenkleid anziehen, das ich Pfingsten zum Gotik-Treffen nicht mitgenommen habe, das Ärmellose. Wetter- und Temperaturabhängig kombiniert … die Nylon-Strumpfhose oder die blickdichte, schwarze Yoga-Hose? Die Mitte, ich wähle die schwarze Baumwollleggings. Schuhe … ich wollte die schwarzen Plateaupumps tragen, aber die sind aus Wildleder, das ist doof im Regen, ich wähle die absatzlosen Doc Martens. Den frühen Nachmittag noch schnell eingecremt.
Das Make-up, nach der Dusche mit dem orientalischen Parfüm und dem obligatorischen Sprühstoß schweres, intensives Parfüm (mit noch extra Patchouli), ich sprenkele den schwarzen Kajal auf das Augenlid, den hinteren Strich ziehe ich vom Lidende mit dem frisch angespitzten Stift zurück zum Auge, den Pinsel ziehe ich an der Stelle in die gleiche Richtung. Leicht aufgetragener, schwarzer Mascara, ich muss unbedingt die feuchten Reinigungstücher für den Morgen danach, zurück im Zug, mit in meine Handtasche packen. Die Brille aufsetzen, es sieht ganz gut aus. Mit dem nächsten Handgriff nehme ich wieder die LED-Leiste von meinem großen Badezimmerspiegel und gehe, fast ausgehbereit, in meinen Flur. Die schwarze Handtasche, die ich immer nehme, die von Coccinelle 2015 in Rom … zur Hälfte gefüllt mit dem schwarzen Kapuzenpullover für später die Nacht. Die Lederjacke anziehen und draußen im Treppenhaus die Stiefel schnüren … freundlicherweise werde ich die letzten Meter durch den Regen von der Familie zum Bahnhof chauffiert. Siebzehn Uhr, der Zug nach Magdeburg und dann der nach Leipzig.
Für das Regionalticket brauche ich noch einen Namen auf dem Papier, in Magdeburg vertrödele ich die Umstiegszeit in einem Krims-Krams-Laden, ich suche so einen Stift mit schwarzer Tinte. Gedankenverloren … meinem Freund, ich habe ihm keine Nachricht geschrieben, ich habe kein Hotel gebucht, er wohnt nicht mehr in Leipzig, wo sollten wir uns treffen? All die letzten Jahre, wo ich immer auf dem kleinen Festival war, die Bands spielen bis weit nach Mitternacht, die Disko geht weiter … irgendwann hatte er mir nicht mehr geantwortet und ich wusste, dass er schon längst eingeschlafen sein muss. Kein Treffen mit ihm, ich versuche es gar nicht erst dieses Jahr.
Der andere Typ da, den ich letztes Pfingsten vor ein paar Wochen in dem Zelt auf dem Mittelaltermarkt getroffen habe, ein neues, potenzielles Casual Date? Er hat dieses Wochenende leider keine Zeit – aber er freut sich riesig, dass ich ihn Wochen später endlich mal eine Nachricht geschrieben habe … vielleicht hätte ich mich doch nicht so kurzfristig melden sollen, ein oder zwei Abende vor meiner Abfahrt nach Leipzig. Ich stehe in der Ecke des Magdeburger Hauptbahnhofes und kritzele mit meinem neu gekauften schwarzen Tintenroller meinen Namen auf das kleine Länderticket auf dem Tresen der Information. Weiter zum Regionalexpress nach Leipzig, der Zug bleibt anfangs leer.
Die schlimmste Toilette, die ich jemals in einem Zug benutzt habe … die Klobrille, die ich herunterklappe, ist vollkommen mit irgendeiner Flüssigkeit bespritzt, ich wische es mit Unmengen Klopapier ab, lege noch mehr Klopapier aus – so ungefähr die Hälfte der Weltbevölkerung ist darauf angewiesen, sich auf eine Klobrille hinsetzen zu müssen! In Gedanken versuche ich mir nur schemenhaft vorzustellen, wie die hochgeklappte Klobrille von der anderen Hälfte der Weltbevölkerung so hinterlassen werden konnte. Ich musste unbedingt auf die Toilette, kurz vor Bitterfeld und Delitzsch … zu geizig und zu eilig, um im Leipziger Hauptbahnhof noch einen Euro in die dortigen Sanitäranlagen zu investieren. 19:50 Uhr kommt der Zug an, Punkt 20:00 Uhr ist Einlass in dem Club – und es gibt nur Abendkasse.
Mit der Straßenbahn weiter die Linie nach Plagwitz, an der Gießerstraße aussteigen … es beginnt heftiger zu regnen. meinen Schirm aus meiner Handtasche holen und aufklappen. 2004 war ich hier den Morgen danach, nach der Gothic-Pogo-Party, in die Straßenbahn zurück zum Hauptbahnhof gestiegen, 2004 war ich das erste Mal in diesem Club, eine Band sehen, die es schon lange nicht mehr gibt.
Ich erreiche den Einlass, den dunklen Weg entlang, die besprühten Mauern, die alten Fabrikanlagen. Draußen steht zwar keiner, aber innen drinnen ist es schon gut gefüllt. Mein erster Weg, nach dem Stempel auf dem Handrücken an der Abendkasse, hoch zu den Toiletten im Obergeschoss – ich habe die Idee, meinen Schirm mit ebenso viel Toilettenpapier trocken zu wischen, bevor ich ihn zusammen zu meinen Pullover mit in die Handtasche legen kann. Wieder runter, die zwei Euro Wechselgeld vom Eingang gleich in eine Flasche Mate-Brause umwandeln.
Mir fallen die zwei gegenüberliegenden Bühnen auf, die große Hauptbühne, wie immer, und die zweite, kleine, die vor dem DJ- und Tontechnik-Pult aufgebaut wird. Prima – wenn ich hier stehenbleibe, brauche ich mich einfach nur umzudrehen und stehe schon vor der nächsten Bühne, bereit für den nächsten Auftritt. Ich mag das neue Konzept, ich hatte mich schon gefragt, wie sie fünf Bands den Abend organisatorisch, mit Umbaupausen, verteilen wollen, ohne dass es wieder bis zwei-Uhr-sonstewas geht. Nur wenige Minuten später, die erste Band fängt schon an.
So ein einzelner Typ, klassisch in schwarzer Lederhose und zerschnittenen, schwarzen T-Shirt mit abgetrennten Ärmeln und ultra viel verschmierter Kajal rund um die Augen. Er performt an seinem Synthesizer und Drum-Computer, oder „Spur-Band-Maschine“ ein paar solide Minimal-Synth-, bereit-für-die-Tanzfläche Musikstücke, der Gesang und das verzerrte Mikro gefällt mir. Ich habe den Flyer mit eingesteckt und hier hängen überall Plakate mit der Running-Order für diesen Abend herum … er kommt aus Norditalien?
Die zweite Band – ich muss mich nur umdrehen und stehe schon direkt davor – dafür bin ich extra hier angereist, die Stimme der Band, die jahrelang schon in meinem Autoradio hoch und runter läuft. Disco Noir … jetzt nur noch die Stimme alleine: Chanson Noir. Ich weiß nicht, welches Pronomen ich für sie oder ihn verwenden soll, der Bandname weist klar auf eine weibliche Adressierung, die Gesangstimme und ihr Wesen auch. Bei ihrer Begleitung, die sie für diesen Abend mit ans Keyboard gestellt hat, ist es einfacher. Chanson ist es nicht, die ersten Stücke gehen ins Post-Rock und Post-Punk … die Zugaben wieder elektronisch, tanzlastig.
Ich sollte mal meine Lederjacke ausziehen, es wird warm in dem Club. Draußen kurz Luft holen, der Regen hat nachgelassen, so kalt ist es nicht geworden. Die zweite Tanzfläche oben war anfangs noch nicht aufgebaut (oder besetzt), für die erste Tanzfläche unten bleibt nicht so viel Zeit zum Tanzen, ich muss mich wieder nur einfach umdrehen und beobachte die nächsten Musiker, ihre Instrumente auf der größeren Bühne vorzubereiten … ein paar große Trommeln, ein Saxophon?
Die dritte Band, aus Polen. Die jungen Musiker spielen das erste Mal in Deutschland. Unerwartete Tempowechsel, ein Schlagzeuger, der seine rohen, Punk-lastigen Texte auf polnisch singt, eine bezaubernde, junge Sängerin und Gitarristin in einem noch viel mehr bezaubernden Schwarz-Bunt-Folklore-Dress-Outfit und zwei oder drei weitere junge Musiker am Bass, Gitarre, Saxophon und Keyboard. Ich bin hingerissen, betitelt als New Wave, könnte das schon in den Jazz-Rock oder Rock-Jazz gehen.
Die vierte Band, der Typ da hinter mir – „Ich muss mich nur umdrehen“ – die runde, schwarze Sonnenbrille, das weiße Hemd, die schwarze Hose, ganz klar franko-belgischer, oldschool Synth-Kram, laut Flyer kommt er aus Frankreich. Seine Titel sind extrem tanzbar, die Menge vor mir bewegt sich weit mehr als ich. „Ich mache ein Schritt zurück!“ Bevor sie mir weiter gefährlich nahe auf meinen Stahlkappenlosen Schnürstiefeln herumspringt. So viel Nebel, so viele LED-Lichter, ein eingestreuter Strobo-Effekt?
Während der Umbaupause, irgendwann muss ich mir eine zweite Flasche Mate-Brause holen, irgendwann muss ich auch mal auf die Toilette. Wieder unten, ich habe die Garderobenhaken an den Wänden entdeckt, Platz für meine Lederjacke und meine Handtasche. Ein extremer Bass föhnt durch meine Haare … ich muss mitten in der Welle stehen, von vorne die PA der nächsten Band, hinter mir die kleine Bühne mit ihren Lautsprechern, dahinter sind erst die Tontechniker. Die letzte Band fängt an, zu spielen, eine Punk-Band aus Deutschland.
„Die sind Scheiße?“ Ich weiß nicht, liegt es an meiner extrem ungünstigen Position mitten im Raum, im Wellental und Wellenberg der aufgebauten Klanglandschaft, oder ist es das ewige Duett der beiden Sänger, der eine geht für mich schon ganz schön in die „Screamo“ Richtung. Ich kann damit nicht viel anfangen, klatsche auch nicht nach jedem Song. Das Publikum, da vor der Bühne, die ersten Reihen, denen gefällt das, die gehen mit. Ich will der Band eine Chance geben, jetzt den Club zu verlassen und mal kurz rausgehen, ist irgendwie doof. In den hinteren Reihen wird es weniger voll, ich kann meine Position leicht um ein paar Meter zur Seite verändern, hier ist der Klang etwas besser.
Ich weiß nicht, wie spät es ist, es muss weit nach Mitternacht sein, aber zwei Uhr – wie die Jahre zuvor – ist es noch nicht. Die Bands sind durch, die DJs legen auf. Die untere Tanzfläche, ich spüre, dass ich etwas taumele, ich will nicht umfallen, in das aufgebaute Equipment der DJs hinter mir auf den Podesten, der eben noch als kleine Bühne genutzten Fläche. Ich ziehe mich an dem Geländer die Treppe hoch zum Obergeschoss, in den Räumen neben der Toilette, die Räume mit den vielen Wänden voller Plakate der letzten zwanzig Jahre, der Rückzugsort, der Chill-out-Bereich, ein paar Sitzbänke.
Das Telefon aus meiner Handtasche kramen … eine Nachricht, nicht von ihm, nicht von dem anderen – eine Nachricht von dem Marokkaner, den ich viele Jahre zuvor mal in einem Swinger-Club kennengelernt habe, mit dem ich mich noch ein paarmal mehr getroffen habe. Mein nächstes Casual Date? Er hält weiter Kontakt zu mir, meldet sich über eine Nachricht ein paar Male im Jahr … er könnte demnächst, vielleicht wieder in der Nähe sein. Ich gebe mich dem Chat hin, wir tauschen ein paar Nachrichten aus. Ein Foto von mir? Das geht nicht, hier in dem Club sind doch Fotos verboten, du bekommst zwei Bilder von mir aus Thailand, die noch auf meinem Telefon gespeichert sind, das eine, wo ich mit den beiden Grazien den Abend in der Bangla Road posiere und das andere, wo ich auf dem Boot bin, in meinem Bond-Girl-Badeanzug, irgendwo in der Phang-Nga-Bucht. Er ist hin und weg. Vielleicht sollte ich ihn wirklich mal wieder treffen? Ich spiele mit ihm.
Die Treppen nach unten torkeln, ein paar Titel tanzen, die Treppen nach oben schleppen, auf der Tanzfläche oben ein paar Titel tanzen. Das ist die größere Tanzfläche, kahle Wände, weißes Licht, herunterhängende Laken, ultra viel Nebel, der DJ hat vor sich ein Gitter. Songs werden gespielt, Deathrock, ich betrete die Tanzfläche, Gothic-Rock, zwei Schritte vor, zwei Schritte wieder zurück, düsterer Wave, der Two-Step, Kopf tief gesenkt, die Flasche theatralisch in der Hand, noch mehr Post-Punk und Gothic-Kram, Dinge in der Luft greifen, die nicht da sind. Das komplette Repertoire. New-Wave-Klassiker, die Windmühlen-Arme.
Wieder unten, meine zweite Flasche habe ich schon wieder leer zurückgebracht, mit dem Pfand, den Eintritt, die beiden Limos hat mich der Abend nur zwölf Euro gekostet? Punker-Schuppen eben. Es ist kurz vor vier Uhr morgens, ich weiß, um 4:25 Uhr oder so, fährt der letzte Nachtbus draußen vor der Haltestelle Richtung Hauptbahnhof ab. Ich will noch nicht gehen, der DJ legt jetzt die Sachen auf, die mich Ende der Neunziger in die düstere Gothic-Szene gezogen haben. „I hate Berlin!“ Ich kann den ganzen Text mitsingen.
Draußen an der Straßenbahn- und Bushaltestelle, Vögel zwitschern, tiefdunkelblaue Farbe kommt zwischen den Bäumen, den Häuserdächern und den durch Straßenlaternen angestrahlten Laubblättern hindurch. Es ist schwül-warm, feucht und doch irgendwie kalt genug, meinen Kapuzenpullover aus der Handtasche zu kramen. In Kleid, Hoodie und Lederjacke stehe ich neben der Laterne am Straßenrand und warte auf den Bus … im Lichtkegel, damit mich der Busfahrer auch sieht, komplett in Schwarz. Ein Bus fährt heran, ich halte die Hand auf, der Bus fährt vorbei. „Dienstfahrt“ – nicht einsteigen. Minuten vergehen, an der Kreuzung dahinten fahren ständig Busse herum … stehe ich falsch? Kommt überhaupt ein Bus? Ist es schon kurz vor fünf Uhr den Sonntag Morgen – schaffe ich meinen Zug überhaupt noch? Der Bus kommt mit zehn Minuten Verspätung, „Jetzt aber schnell!“
Busspuren voller Busse, Straßenbahngleise voller Straßenbahnen, alles fährt zum Hauptbahnhof, das Herz von Leipzig. Mein Zug zurück steht schon bereit, es wären noch zehn oder fünfzehn Minuten Zeit gewesen. Ich muss nicht eine Stunde länger warten, hier irgendwo schon frühstücken, eine weitere Stunde in Magdeburg warten, bis dann irgendwann mal den späten Sonntag Vormittag ein Bummelzug in mein Vorstadtkaff fährt. Zeitlich passt es wieder, wie gewohnt, der Fünf-Uhr-Zug zurück. Die Gänge des Regionalexpresses in Doppeltraktion sind hell erleuchtet, die Toilette ist blitzeblank sauber für meine Erstbenutzung. Die Sitzecken mit der Möglichkeit, sich komplett hinzulegen, sind mir zu exponiert, ich bevorzuge wieder die intime Ecke auf den beiden Sitzen am hinteren Ende des Wagon-Abteils, direkt mit der festen Rückwand, ohne eine Sitzreihe dahinter. Hier ist es dunkel und abgeschirmt genug. Auch wenn draußen schon die Sonne aufgegangen sein muss, die tiefdunkelblauen Regenwolken ohne Regen lassen keinen Sonnenstrahl durch. Ich ziehe mir meine Kapuze tief vor die Augen und lege mich mit angezogenen Beinen auf die beiden Sitzplätze … ungünstig, ich trage ein kurzes Kleid. In der Hoffnung, meine Stiefel decken alles ab, versuche ich etwas zu schlafen.
Delitzsch, Bitterfeld … Roßlau – Dessau muss ich verpasst haben. Ich hätte nicht bis zuletzt stark koffeinhaltige Mate-Brause trinken sollen, vielleicht wäre ich etwas mehr eingeschlafen.
Der Magdeburger Hauptbahnhof, ich bin schon ein paar Haltestellen vorher wach. Zu viele merkwürdige Gestalten, die Bahnhofssicherheit umzingelt ein paar Trinker oder Obdachlose, die Bundespolizei ein paar andere ihr verdächtig erscheinenden Wesen der Nacht. Ich laufe daran vorbei … in Schnürstiefel, schwarzer Leggings, kurzes, schwarzes Röckchen, Lederjacke und die Kapuze des schwarzen Baumwollpullovers darunter weit ins Gesicht gezogen, von mir sind nur die langen, blonden Strähnen zu sehen und meine schwarz geschminkten Augen. Zum Bäcker da vorne, ein Schoko-Croissant bestellen, das, was ich hier immer um sieben Uhr Sonntag morgens, die Nacht zurück aus Leipzig, mache.
Draußen am Ausgang verdrücke ich mein Croissant, immer wieder mit dem Finger die Haarsträhnen unter der Kapuze wegschieben.
Wieder zurück in dem Regionalzug in mein Kaff, jetzt kommen die Abschminktücher zum Einsatz, die ich extra mitgenommen habe, diese Minuten vor dem Spiegel zu Hause, kann ich einsparen, bin damit viel schneller im Bett, ich habe die letzten Fahrten mindestens zwei Frauen gesehen, die das auch so machen.
Wieder zu Hause, den Weg vom Bahnhof zurück die zwei verschlafenen Straßenecken, wenigstens regnet es nicht. Routiniert meine Tasche auf die Leopardendecke auf meiner Couch schmeißen, nur das Smartphone und Zahnpasta und Zahnbürste da raus nehmen (ich war doch auf Übernachtung eingestellt), alle Fenster öffnen, ins Bad, und wieder zurück ins Schlafzimmer. Fenster wieder zu und schwere Gardinen davor … hoffentlich lässt das Koffein nach, hoffentlich kann ich einschlafen. Gefühlt 8:30 Uhr, ich blicke nicht auf die Uhr von meinem Smartphone, ich ziehe meine Bettdecke über den Kopf und schlafe ein. Wenigstens drei, vier Stunden bis Sonntag Mittag.
Über zwanzig Jahre solche Partynächte …
[08.07.25 / 23:12]✎ Ein Bikertreffen das erste Juliwochenende, ich habe mein Motorrad den Abend schon wieder zwanzig Kilometer zurück in meine Garage gebracht und bin mit dem Auto wiedergekommen. Ich sitze auf einer der Bänke unter einem großen Partyzelt und schaue mir die Band auf der kleinen Bühne an, die die großen Rocksongs der vergangenen Jahrzehnte covert. Es ist kurz vor Mitternacht und dich trinke vielleicht den fünften Plastebecher Wasser. Eine Frau setzt sich zu mir: „Weißt du, wer ich bin?“ Ich glaube, schon. Es gibt mindestens drei schwarzhaarige Frauen hier in Rocker-Klamotten, die für mich gleich aussehen. Es ist die eine vom letzten Bikertreffen, die mir den Morgen nach dem Zelt das Frühstück serviert hat. Die Motorradclubs besuchen sich gegenseitig den Sommer auf ihren Treffen. Sie arbeitet bei ihrem Club schon seit Anfang an.
„Wir beobachten dich schon seit fünfzehn Jahren, du kommst jedes Jahr zu uns“, nicht ganz, manchmal ist das Wetter nicht so, „Wir haben deine Verwandlung von Anfang an miterlebt.“ Sie erzählt weiter, dass sie eine Bekannte hatte, deren Tochter ist genau so wie ich … sie lebt jetzt auch als Frau.
All die Jahre, als ich 2008 mein Motorrad gekauft habe, 2009 (oder 2010) das erste Mal auf einen ihrer Bikertreffen war, ich denke, ich habe mich optisch nicht verändert, ich war schon immer so, lange, blonde Haare, feminine, zierliche Figur. Immer zwischen den Menschen, aber nie nah und möglichst keine Gespräche. „Ich kann doch mit dir reden, wenn das nicht unangenehm für dich ist.“ Mittlerweile bin ich offener für Menschen, ich habe das letzte Jahr mehr Kontakte zugelassen, bin schon fast in einer Gruppe Motorradfahrer integriert, die sich lose auf den Treffen hier in der Region trifft. Gesichter erkenne ich erst, wenn ich sie Jahr für Jahr immer wieder sehe. Habe ich mich wirklich verändert, ist meine Wandlung über die letzten fünfzehn Jahre sichtbar?
Das autistische, asexuelle Etwas, gefühlt bin ich es immer noch. Die zugängliche Frau, die Motorrad fährt und irgendwie doch selbstbewusst die Anmachsprüche der Männer kontert … (noch längere Pause) … ich bin vielleicht das geworden, was ich immer sein wollte.
[06.07.25 / 19:57]✎ Fahre ich zum CSD nach Leipzig? Es fühlt sich komisch an, ich weiß, das Wochenende naht und ich bin bis jetzt jedes Jahr zum CSD nach Leipzig gefahren. Nur dieses Jahr nicht. Stealth trans, alles vermeiden und leugnen, was auf meine verborgene Vergangenheit hindeuten könnte. Für das letzte Wochenende im Juni ist ein Nachmittag und ein Treffen mit den Arbeitskolleginnen in einer Strandbar an der Elbe geplant, das Wetter ist schön, angenehmer Sonnenschein, kein Regen, ein schöner Sommertag. Ich weiß genau, was ich anziehen werde – das neue, schwarze Kleid mit dem goldenen, aufgedruckten Paisley-Muster, superkurz, fast eine Tunika und weite, ausladende Ärmel, Bohéme-Chic.
Ich stelle mich schon darauf ein, den Sonnabend ganz entspannt zu beginnen, frühestens um elf Uhr den Vormittag aufstehen … so gegen neun, ich wache auf und prüfe das Smartphone neben meinem Bett. Abgesagt. Alles umplanen, das muss jetzt schnell gehen! Dann fahre ich eben doch nach Leipzig! Ich springe aus meinem Bett, hätte ich geplant, nach Leipzig zu fahren, hätte ich den Zug genommen, da wäre noch eine Party nach der Demo, in Connewitz. Beine rasieren, für mein Kleid, den Zug schaffe ich schon lange nicht mehr, ich nehme das Auto. Ein Frühstück draußen auf der Terrasse im Garten, keinen Kaffee, keine Zeit, die Tasche zusammensuchen – ich nehme die schwarze Stoffhandtasche – nur leichtes Gepäck. Kein Übernachtungs-Kit. Der Parfümstoß schweres, orientalisches Parfüm und ich bin draußen in der Garage in meinem Auto. Wenn ich es bis um elf hierhin schaffe, dann fahre ich los.
Auf der Autobahn, ich wollte es langsam angehen, die Geschwindigkeit auf der linken Überholspur wird immer schneller. 120, 130 … 150, 160? Ein Auto bremst, irgendwo da vorne, kurz vor Halle, kurz bevor die Autobahn dreispurig wird. Ich drücke auf die Bremse, ich stehe schon auf der linken Spur, vor mir die Bremslichter des vorausfahrenden Autos. Puh, das war knapp, das hätte auch schief gehen können.
In Leipzig, Blinker rechts auf meine Ausfahrt, ich weiß, wo ich parken kann, wenn in der Innenstadt wieder so viel Verkehr ist, wenn da wieder die Polizei alles wegen der Demo absperrt, wenn da wieder irgendwelche Faschos irgendwelche Gegen-Demos anmelden – ich parke weit abseits in der Gegend, wo ich mal gewohnt habe. Ich biege die Straße bei meinem Lieblings-Bäcker ein, bestimmt habe ich hier auch mal vor Jahren schon mein Auto unter den Bäumen und auf diesen Kopfsteinpflaster geparkt.
Nur fünf Straßenbahnstationen zum Hauptbahnhof, keine Kurzstrecke, ich muss das volle Ticket aus dem Automaten ziehen. Mit dabei neben meinem ultrakurzen Kleid / Tunika habe ich noch meinen Strohhut und die Hi-Top-Sneakers gewählt. Kapuzenpullover bleibt im Auto.
Am Hauptbahnhof vorbei, die nächste Station zum Augustusplatz … werden viele gekommen sein? Die Rechten und ihre Gegen-Demos vom letzten Jahr, das schreckt ab, das macht Angst, ich wollte doch auch nicht mehr kommen. Ich steige aus der Straßenbahn aus und laufe rüber zu dem großen Platz vor der Oper. Es sind doch einige gekommen, nicht so viele wie letztes Jahr, vielleicht gefühlt ein Drittel weniger, aber doch eine starke Demo.
Viele Plakate, viele Fahnen, Regenbogen, bunt, unterschiedlichster Art. Ein paar starke Drag Queens, die „Tier-Liebhaber“, jetzt in militanten Tarn-Uniformen. Die Ordner, die fast schon aussehen, wie in den USA mit ihren taktischen Westen und dem halbautomatischen Schnellfeuergewehr – zum Schutz der queeren Demo – entdecke ich nicht. So schlimm ist das hier noch nicht in Deutschland. Es dauert, ehe sich irgendetwas zwischen den bereitstehenden Demo-Trucks bewegt, eigentlich hätte ich mich gar nicht beeilen müssen, eigentlich hätte ich noch eine Stunde Extra-Zeit gehabt. Noch schnell einen Kaffee? Nein, doch nicht, ich nutze die Zeit zwischen den Arkadengang und den Bäumen am Eingang der Fußgängerzone zum Eincremen meines ganzen Körpers, Arme, Beine, Brust und Gesicht, mit Sonnencreme aus meiner schwarzen Umhängetasche.
Es geht so langsam los, es sind noch viel mehr Leute gekommen. Ich glaube, die meisten Menschen sammeln sich am hintersten Ende, den letzten Wagen, der linke und antifaschistische Block. Der Block mit den schönen Menschen. Techno-Musik wird aufgelegt, immer wieder Rufe, die bekannten Sprechchöre, kraftvoll und voller Wut. Wo sind sie, die Rechten? OK … keiner da, nichts zu sehen, die Polizei hat alles im Griff. Früher auf den linksextremistischen Demos, hätten wir die Polizei angegriffen, aber das ist hier der CSD, da sind das unsere „Freunde“, ohne dass wir denen so hundert Prozent vertrauen …
Ich tanze hinter den Trucks, auf den Kreuzungen ändert sich mein Blick und meine Bewegung, ich blicke in die Straßen rechts und links, nicht alle sind mit Polizeifahrzeugen blockiert, hier und da entdecke ich ein Auto von einer Seitengasse auf die Nebenstraße einbiegen … wenn der jetzt Gas geben würde. Ich befürchte schon lange so ein Attentat auf einen CSD hier irgendwo in Deutschland, es ist nur eine Frage der Zeit, bis so ein verrückter (wieder) kommt. Schnell wechsele ich von meinem militärischen Aufklärungsmodus wieder in den entspannten Tanz-Modus. Ich vermisse die Zeiten, wo das alles noch ein Riesen-Spaß war, einfach nur ein bisschen Party machen und richtig schöne, bunte Menschen entdecken. Irgendwann, die letzten Jahre, wurde es zu politisch und das zieht immer Gegner und Hass an.
Die Demo zieht durch die Innenstadt von Leipzig, sie haben mit zehntausenden Menschen gerechnet, um diese Masse zu bewältigen, muss die Demo in einem größeren Kreis um den Innenstadtkern herumgezogen werden. Die Sonne brennt, mein Tunika-Kleid sah erst zu Hause im Garderobenspiegel zu ungewohnt kurz aus, jetzt bin ich glücklich, nicht noch eine Leggings darunter angezogen zu haben. Die erste Flasche Wasser habe ich schon ausgetrunken, ich wechsele auf die zweite Flasche. Ich komme in ein kurzes Gespräch mit dem Nachbarmann neben mir, mein Blick wandert von dem Aufklären der Nebenstraße zu ihm. Ein kurzer Aufschrei von hinten, ich habe meinen Blick schon gesenkt, ein kleines Mädchen sammelt vor mir die bunten Glitzerstreifen der Demo auf. Ich bleibe stehen, ziehe meinen rechten Fuß langsam zurück. Puh, das war knapp, das hätte auch schief gehen können! Ein zweiter, solcher Moment. Nur wenige Zentimeter, ich hätte ihr auf die kleinen Hände getreten. Ich glaube, ich bin hier auf dieser Demo in einem so hohen Adrenalin-Spiegel, ich bekomme alles mit … und ich bin auch bis oben dicht mit weiblichen Hormonen, mir fällt jedes kleine Kind hier auf und aktiviert meinen Beschützerinstinkt.
Am Marktplatz und Hauptbahnhof vorbei, wieder zurück auf den Augustusplatz zwischen Gewandhaus und der Oper. Nach der Demo ist das Fest mit der Bühne auf dem großen Platz. Ich mache noch eine Runde zwischen den aufgebauten Ständen, bis ich einen entdecke, irgendwo steht immer einer von einer Organisation für trans Menschen. Eine blau-weiß-violette Postkarte, „Trans is beautiful“, ziert von nun an die untere Ecke meines Garderobenspiegels zu Hause im Flur. Lange bleibe ich nicht zwischen den Ständen, die heiße Sonne drückt und ich habe auch nicht so das Interesse an dem Bühnenprogramm. Zurück in die Innenstadt, die Fußgängerzone, den frühen Sonnabend Nachmittag, ein Eis essen.
Weiter zum Marktplatz, weiter zu meiner obligatorischen Runde in dem Kaufhaus. Angenehm klimatisierte Temperaturen, die Summer-Sale-Kleiderständer mit den Augen abstreifen … mein Filter sucht ein schwarzes Polo-Kleid. Für einen kurzen Moment, Anfang des Jahres, sah es so aus, als könnte es wieder modern werden. Leider nicht, es ist kein Trend daraus geworden, ähnliche Safari-Kleider finde ich auch nicht mehr.
Weiter zu Kaffee und Kuchen auf dem kleinen Platz am anderen Ende der Leipziger Fußgängerzone mit der Kirche, die „irgendetwas mit Bach“ zu tun hat. Mein erster Kaffee für diesen Tag. Weiter danach, zurück in die Fußgängerzone hinein, in das italienische Restaurant versteckt in einem schattigen Innenhof, den Menschenmassen entfliehen, eine Pizza bestellen.
Ich wohne nicht mehr in Leipzig, eine Dusche wäre jetzt nett – und dann den Abend zu der Party irgendwo in Connewitz. Von irgendwo höre ich die Kirchenglocken, es muss achtzehn Uhr oder so etwas sein. Die Pizza bezahlen, die Straße wieder rauf zum Hauptbahnhof laufen, die große Uhr an dem imposanten Gebäude zeigt es an, es ist bereits irgendwo zwischen achtzehn und neunzehn Uhr.
Die Bahnhofstoilette, mein zweites Badezimmer – ich verbringe hier immer viel Zeit. Nur ein Euro und ich habe die großen Waschbecken und Spiegel für mich. Mit viel Seife und noch viel mehr Papiertüchern zum Abtupfen, wasche ich mir die ganze Sonnencreme von meinem Körper … Beine, Arme, Brust und Gesicht, nur das Kleid kann ich hier nicht ausziehen, das geht nicht, zumindest trage ich eine etwas längere, schwarze Unterhose, nicht den knappsten und kürzesten Tanga. Es geht ungewöhnlich gut, keinen Stress, ich nehme mir meine Zeit. Wechsel zum Schminkspiegel hinter mir, den schwarzen Kajalstrich an den Augenlidern führen … das hintere Ende geht jetzt mal vom Lidende zurück zum Auge. Ich habe den falschen Pinsel aus meiner Kosmetiktasche gegriffen, der ist eigentlich für den Lidschatten, die rauchig schwarzen Augen wirken jetzt noch viel rauchiger. Mit dem Finger leicht nach unten ziehen, die schwarze Farbe kommt über das untere Augenlid und dem Wimpernkranz. Wieder die Brille aufsetzen und so übel ist das jetzt nicht geworden. Bereit zum Ausgehen nach Connewitz.
Mit der Straßenbahn zurück zum abgestellten Auto und dann mit offenen Verdeck in Richtung Südstadt und weiter zum Kreuz, mein Parkplatz am Werk 2, wo ich wenige Wochen zuvor, Pfingsten schon war. Wo ist der Einlass, die große Halle hinten oder die kleinere Halle vorne? An der Halle hinten stehen Menschen, erst mal mit anstellen, eine Ticket-Kasse – hier ist den Abend eine kontemporäre Tanzvorführung … wäre bestimmt auch interessant gewesen, aber dafür bin ich nicht hier. Zurück zum Eingang der kleineren Halle mit dem Zugang nach unten. Ein aufgestellter Plakatständer weist darauf hin, dass hier heute Abend die queere Party-Nacht läuft. Einlass ist erst zwanzig Uhr.
Die ersten Gäste sammeln sich und warten, dann der Einlass … ich muss Eintritt bezahlen? Im Internet stand, dass das hier heute kostenlos ist – nur das „Speed-Friending“ von zwanzig bis zweiundzwanzig Uhr ist kostenlos, die Party danach nicht, die kostet fünfzehn Euro. Ich bekomme ein Papierbändchen um mein Handgelenk für die Party danach.
Unten im Club-Keller, auf der dunklen Tanzfläche sind einige Stehtische aufgebaut, mit großen Papieren mit Themenvorschlägen für Fragen und Dinge, über die sich die anwesenden Gäste unterhalten könnten. Seitlich sind auch wieder ein paar niedrige Tische mit Sitzgelegenheit und noch viel mehr Themenblätter aufgebaut. Die Organisatorin erklärt das Ganze, setzt euch einfach irgendwo dazu, beginnt ein Gespräch oder hört einfach nur zu. Am Eingang, an dem ersten Bartisch liegen die Aufkleber: deine Pronomen, dein Geschlecht und was du suchst, Flirt, Freundschaft oder einfach nur nichts. Ich kreuze Flirt und Freundschaft an und setze mich in die Hobby-Ecke, über Hobbys erzählen, das kann ich, ich habe interessante Hobbys.
Smalltalk, ungezwungen, den anderen zuhören, Fragen stellen. Meine Hobbys sind Blog-schreiben und Motorradfahren. Und was habt ihr so für Hobbys? Vielleicht ergibt sich ein Flirt, vielleicht lerne ich jemanden kennen, vielleicht entdeckt jemand die kleine dahingekritzelte Zeichnung auf meinem großen, runden Aufkleber auf meiner Handtasche – ich suche eine Dusche (vielleicht auch eine Übernachtungsmöglichkeit). Ich stehe noch an weiteren Ständen, für „Self-Care“ und Smalltalk allgemein … aber es ergibt sich nichts weiteres. Muss es auch nicht. Die zwei Stunden gehen sehr schnell rum. Ich bedanke mich bei der Organisatorin gegen Ende dieser ungewöhnlichen Veranstaltung, ich kann doch auch auf Menschen zugehen und ein Gespräch beginnen … vielleicht habe ich nur nicht so interessante Hobbys.
Wieder draußen, alle müssen raus zum Umbau. Das Absperrgitter wird wieder vor die Eingangstür geräumt, die Wartelinie für den Einlass. Wieder die Menschen mit der Aufschrift „Sicherheit“ auf ihren Westen. Ich habe meinem Freund keine Nachricht geschrieben, er weiß nicht, dass ich in Leipzig bin. Ohne ein Hotelzimmer macht das keinen Sinn, wo sollte ich mit ihm hin? Und hier hat er jetzt Probleme mit der Security. Ein Awareness-Team mit den lila Westen gibt es diesen Abend auch.
Der Einlass öffnet sich wieder, ich gehe mit meinem Papierbändchen durch. Es kommen mehr Leute, aber viele sind es nicht. Die erste DJane legt einen Neunziger-Jahre-Eurodance-Hit nach dem anderen auf. Ich habe da nie zu getanzt. Bei „Barbie Girl“ muss ich dann doch auf die Tanzfläche. Die meiste Zeit sitze ich in der dunkelsten, hintersten Ecke auf einem Barhocker an einen der Stehtische. Der eine Mann, der sich zu mir gesetzt hat, für den ich immer auf seine Tasche aufpasse, wenn er nach draußen eine Zigarette rauchen geht oder an die Bar, ist mindestens auch zwanzig Jahre älter als die anwesenden Gäste, die auf der Tanzfläche herumhüpfen. Er kennt die Songs bestimmt noch von früher, Anfang und Mitte der Neunziger. Ich auch, ich habe mich 1997 mit fünfzehn von der Teenie-Disko in die Erwachsenen-Disko danach geschmuggelt.
Irgendwann nach Mitternacht, die DJane hat gewechselt, die neue legt jetzt 2000 oder 2010er auf, damit kann ich nichts anfangen, da war ich schon tief in der Gothic-Szene. Den einen Mann begegne ich noch am Ausgang, ich bemerke seine grauen Haare, er war tatsächlich wesentlich älter, als die da drinnen. Bleibe ich noch? Wird es besser? Ich bin mit dem Auto hier, ich weiß, dass ich dann nicht so lange bleiben kann, ich will nach drei Uhr den Morgen nicht mehr fahren. Ich sehe, dass sich an der Einlassschlange nicht so viel mehr tut, es kommen zwar noch ein paar, aber voll wird das hier nicht. Zurück zu meinem abgestellten Auto.
Die Nacht die Autobahn zurück nach Hause, ein angemessenes Tempo. Jedes Kilometerschild wird die Zeit zurück geschätzt, noch vierzig Minuten, noch dreißig Minuten … bis nach Magdeburg. Im Autoradio laufen die ganzen Bands vom MP3-Stick, die ich Pfingsten live gesehen habe. Gedanken … das Kleid ist schön, das sollte ich die nächsten Tage noch einmal auf Arbeit tragen. So eine aggressive Gegen-Stimmung war es doch nicht auf dem CSD, verschwindet die queere Bewegung aus dem Fokus? Hier und da Nachrichten aus meiner Blase, die das nicht bestätigen. Weitere Termine in meinem Kalender, noch ein Bikertreffen, noch ein Festival in Leipzig – ich bin die nächsten Wochenenden noch viel mehr unterwegs. Zwei Uhr und nochwas, das Garagentor geht auf, endlich in meiner Wohnung, endlich in mein Bett fallen. Sachen von meiner Couch zusammenräumen, mache ich den Sonntag in ein paar Stunden, nur wieder schnell im Bad den Kajal aus den Augen wischen. Habe ich jemals jemanden kennengelernt, als ich noch stark geschminkt war? Ja, aber da war ich noch viel jünger.
[01.07.25 / 21:35]✎ Laserbehandlung #1 (Haarentfernung #32) – Seit einiger Zeit beobachte ich wieder einige dunkle Schatten am Mundwinkel und der Bereich am unteren Kinn, während ein paar langen Wochenenden dieses Jahr (Ostern, Erster Mai) zeigten sich einzelne, dunkle Haarstoppeln … ich muss wieder einen Termin bei meinem Kosmetikstudio machen! Auf der Internetseite – der Name des Studios hat sich verändert, aber die Adresse und die Inhaberin sind noch gleich, eine Email, ein Telefonanruf … frühestens Anfang Juli ist noch ein erster Beratungstermin wieder frei. Sie haben ihre Ausrüstung modernisiert, zusätzlich zu IPL bieten sie jetzt auch Laser- und Nadelepilation an … ich bin gespannt.
Mein Termin, die Bartstoppeln wachsen lassen, das Wochenende und die ersten Tage der Arbeitswoche – da muss ich jetzt durch. Ich lege mir schon eine Ausrede zurecht: „Jetzt ist es raus, mein Geheimnis, ich bin eine bärtige Drag Queen!“ Aber anscheinend fällt es niemanden auf, ich bekomme sogar Komplimente für mein hübsches Kleid (das vom letzten CSD in Leipzig). Die kratzigen Bartstoppeln sind nur einen Millimeter dick und weitestgehend hellblond.
Die Kosmetikerin schaut sich das alles unter der hellen Lampe an, die zehn oder fünfzehn dunklen Haare kann sie gleich in der ersten Sitzung mitbehandeln, sie schlägt den (kosmetischen) Laser vor, der wirkt punktuell. Die anderen, hellen Haare, vielleicht später bei den nächsten Sitzungen mit der Nadel. Ich liege wieder auf der Liege in dem Behandlungsstudio und bekomme die Laser-Brille auf.
Fast keine Schmerzen. Es fühlt sich an, als würden sie nur ausgezupft. Der Geruch verbrannter Haare. Ist es das? Kein Vergleich zu meinen allerersten Sitzungen von vor über zehn Jahren, als noch großflächig mit viel Druck und brutalen Schmerzen bis auf den Knochen der ganze, verdammte Bart vaporisiert wurde. Am Bezahlterminal wieder draußen, zücke ich meine EC-Karte … so viel Geld für die paar Piekser. Wenn es nicht brutal wehtut, bringt es nichts? Vielleicht sollte ich von meinem Erwartungs-Denken abrücken. Haarentfernung muss nicht schmerzhaft sein.
das habe ich sehr gerne gemacht. Zum Einen interessiert mich das Thema und zum Anderen hast Du wirklich sehr lebendig und spannend geschrieben. Da wollte ich Alles lesen und wollte Dir schreiben, das mir Dein Blog besonders gut gefallen hat (Die eigentliche Arbeit hattest Du ja mit dem Verfassen des Blogs). Wenn Du magst können wir den Kontakt gerne per Mail halten. Viele Grüße Daniele
Morgana LaGoth: Mail-Adresse steht oben bei "kontakt" - bei weiteren Fragen, gerne.
vielen Dank für Deinen tollen Blog. Ich habe ihn in den letzten Wochen komplett gelesen. Meistens konnte ich gar nicht aufhören zu lesen. Fast wie bei einem sehr spannenden Roman. Ich habe dabei Deine genauen Beobachtungen und Beschreibungen sehr genossen. Deine vielen Ausflüge in die Clubs und zu den Festivals oder Deine Streifzüge d durch die Geschäfte beschreibst Du immer aus Deiner Sicht sehr anschaulich und spannend. Ich kann das sehr gut nachvollziehen, das alleine zu erleben, häufig auch mit einer gewissen Distanz. Ich kenne ich von mir sehr gut. Highlights sind Deine Reiseberichte. Deine Erlebnisse an den unterschiedlichsten Orten auf der Welt. Vielen Dank dafür. Vielen Dank auch das Du Deinen Weg zu Deinem waren Geschlecht mit uns Lesern teilst. Deinen Weg Deine Gefühle Deine zeitweisen Zweifel. Das ist sehr wertvoll auch für uns Andere, denn es ist authentisch und sehr selten. Du bist einem dadurch sehr vertraut geworden. Für mich ist eine gefühlte grosse Nähe dadurch entstanden. Umso mehr schmerzt es mich von Deinen Rückschlägen zu lesen. Von Deinem Kampf zu Deinem wahren Ich. Von Deinem Kampf umd Liebe, Zährlichkeit und Akzepzanz und Anerkenung. Von Deiem mitunter verzweifeltem Kampf nach Liebe und Anerkennung durch Deinen Exfreund. Leider vergeblich. Dein Kampf um wirtschaftliche Unabhängigkeit und Deine aktuell missliche Lage. Ich glaube dass Du nicht gescheitert bist. Du hast viel Mumm und Hardnäckigkeit bewiesen Deinen Gang zu Dir selbst zu gehen. Du hast auch einen guten Beruf der immer noch sehr gefragt ist. Vielleicht kann ja nach dieser Auszeit und etwas Abstand ein Neuanfang in einer anderen Firma, wo Du keine Vergangenheit als Mann hattest gelingen. Ich wünsche das Dir ein Neuanfang gelingt und drücke Dir ganz fest die Daumen. Daniele
Morgana LaGoth: Da liest sich tatsächlich jemand alles durch? Das ist mittlerweile schon ein kompletter Roman mit mehreren hundert Seiten! Danke dir, für deinen Kommentar (und die aufgebrachte Zeit).
vielen Dank für Deine offenen und kritischen Erlebnisberichte. Ich bin in 3 Monaten in Sanssouci zur FzF-OP. Ich denke auch, was kann schon schief gehen, status quo geht nicht und irgendwas besseres wird wohl resultieren. Wenn es Dich interessiert, halte ich Dich informiert. Drücke mir die Daumen.
Herzlich
Drea
Morgana LaGoth: Ich wünsche dir für deine Operation viel Glück. (Sollte der Koch nicht gewechselt haben, das Essen da in der Klinik ist richtig gut!)
[14.11.17 / 20:13]Morgana LaGoth: Nutzungsbedingungen für die Kommentarfunktion: Die Seitenbetreiberin behält sich das Recht vor, jeden Kommentar, dessen Inhalt rassistisch, sexistisch, homophob, transphob, ausländerfeindlich oder sonstwie gegen eine Minderheit beleidigend und diskriminierend ist, zu zensieren, zu kürzen, zu löschen oder gar nicht erst freizuschalten. Werbung und Spam (sofern die Seitenbetreiberin dafür nicht empfänglich ist) wird nicht toleriert. Personenbezogene Daten (Anschrift, Telefonnummer) werden vor der Veröffentlichung unkenntlich gemacht.
Kommentar:
[05.12.22 / 17:34] Daniele1992: Hallo Morgana
Mail ist heute rausgegangen
LG Daniele
[13.11.22 / 09:33] Daniele1992: Hallo Morgana
aktuell keine schöne Situation. Ich schreibe Dir noch eine Mail dazu.
LG Daniele
[13.05.22 / 09:15] Daniele1992: Hallo Morgana,
Tolle Reisebericht von Deiner neusten Reise nach Paris. Macht grosse Lust auch wieder dort hinzufahren um sich von der Stadt inspirieren zu lassen.
Tolle Neuigkeiten.NeuerJob. Klasse! Freue mich für Dich.
Liebe Grüße
Daniele
[24.12.21 / 20:55] Daniele1992: Hallo Morgana,
Ich denke an Dich und wünsche Dir frohe Weihnachten und ein schönes neues Jahr 2022.
Liebe Grüße
Daniele
[25.09.21 / 14:59] Daniele1992: Hallo,
eine Chance etwas Neues zu machen. Neue Perspektiven. Urlaubsträume, die bald real werden können. Nicht so schlecht. Freue mich für Dich. LG Daniele.
[11.11.20 / 09:12] Daniele1992: Hallo Morgana
Ich habe Dir eine Mail geschickt.
Lg
Daniele
[30.07.20 / 22:03] Daniele1992: Guten Abend
das habe ich sehr gerne gemacht. Zum Einen interessiert mich das Thema und zum Anderen hast Du wirklich sehr lebendig und spannend geschrieben. Da wollte ich Alles lesen und wollte Dir schreiben, das mir Dein Blog besonders gut gefallen hat (Die eigentliche Arbeit hattest Du ja mit dem Verfassen des Blogs). Wenn Du magst können wir den Kontakt gerne per Mail halten. Viele Grüße Daniele
[30.07.20 / 12:44] Daniele1992: Guten Morgen,
vielen Dank für Deinen tollen Blog. Ich habe ihn in den letzten Wochen komplett gelesen. Meistens konnte ich gar nicht aufhören zu lesen. Fast wie bei einem sehr spannenden Roman. Ich habe dabei Deine genauen Beobachtungen und Beschreibungen sehr genossen. Deine vielen Ausflüge in die Clubs und zu den Festivals oder Deine Streifzüge d durch die Geschäfte beschreibst Du immer aus Deiner Sicht sehr anschaulich und spannend. Ich kann das sehr gut nachvollziehen, das alleine zu erleben, häufig auch mit einer gewissen Distanz. Ich kenne ich von mir sehr gut. Highlights sind Deine Reiseberichte. Deine Erlebnisse an den unterschiedlichsten Orten auf der Welt. Vielen Dank dafür. Vielen Dank auch das Du Deinen Weg zu Deinem waren Geschlecht mit uns Lesern teilst. Deinen Weg Deine Gefühle Deine zeitweisen Zweifel. Das ist sehr wertvoll auch für uns Andere, denn es ist authentisch und sehr selten. Du bist einem dadurch sehr vertraut geworden. Für mich ist eine gefühlte grosse Nähe dadurch entstanden. Umso mehr schmerzt es mich von Deinen Rückschlägen zu lesen. Von Deinem Kampf zu Deinem wahren Ich. Von Deinem Kampf umd Liebe, Zährlichkeit und Akzepzanz und Anerkenung. Von Deiem mitunter verzweifeltem Kampf nach Liebe und Anerkennung durch Deinen Exfreund. Leider vergeblich. Dein Kampf um wirtschaftliche Unabhängigkeit und Deine aktuell missliche Lage. Ich glaube dass Du nicht gescheitert bist. Du hast viel Mumm und Hardnäckigkeit bewiesen Deinen Gang zu Dir selbst zu gehen. Du hast auch einen guten Beruf der immer noch sehr gefragt ist. Vielleicht kann ja nach dieser Auszeit und etwas Abstand ein Neuanfang in einer anderen Firma, wo Du keine Vergangenheit als Mann hattest gelingen. Ich wünsche das Dir ein Neuanfang gelingt und drücke Dir ganz fest die Daumen. Daniele
[05.10.19 / 17:11] Drea Doria: Meine liebe Morgana,
bin 5 T post all-in-one-FzF-OP. Deine guten Wünsche haben geholfen. Der Koch ist immernoch noch super. Alle hier sind herzlich und nehmen sich Zeit.
Herzlich
Drea
[14.06.19 / 12:57] Drea Doria: Meine liebe Morgana,
vielen Dank für Deine offenen und kritischen Erlebnisberichte. Ich bin in 3 Monaten in Sanssouci zur FzF-OP. Ich denke auch, was kann schon schief gehen, status quo geht nicht und irgendwas besseres wird wohl resultieren. Wenn es Dich interessiert, halte ich Dich informiert. Drücke mir die Daumen.
Herzlich
Drea
[14.11.17 / 20:13] Morgana LaGoth: Nutzungsbedingungen für die Kommentarfunktion: Die Seitenbetreiberin behält sich das Recht vor, jeden Kommentar, dessen Inhalt rassistisch, sexistisch, homophob, transphob, ausländerfeindlich oder sonstwie gegen eine Minderheit beleidigend und diskriminierend ist, zu zensieren, zu kürzen, zu löschen oder gar nicht erst freizuschalten. Werbung und Spam (sofern die Seitenbetreiberin dafür nicht empfänglich ist) wird nicht toleriert. Personenbezogene Daten (Anschrift, Telefonnummer) werden vor der Veröffentlichung unkenntlich gemacht.
1