Meine Lederjacke und meine Handtasche bringe ich zu der Garderobe.
[02.11.24 / 18:52] ✎ Meine Lederjacke und meine Handtasche bringe ich zu der Garderobe. Weiter an die Bar, das erste Getränk holen, eine Mate-Brause. Der Club hat sich gefüllt, es sind wesentlich mehr Menschen neu dazu gekommen, aber keiner tanzt. Alle unterhalten sich. Die wenigen Sitzplätze werden beschlagnahmt, hier und da kann ich auch mal kurz auf einem Barhocker sitzen. Ich bin allein, nur meine Glasflasche und die kleine Clutch neben mir auf dem runden Stehtisch. Mein Smartphone ist in der Tasche. Ich klappe die Clutch auf und hole es heraus.
Ich konnte es nicht lassen, ich musste ihm den späten Nachmittag im Zug noch eine Nachricht tippen. Hey, ich bin gerade auf dem Weg nach Leipzig, da ist so eine Party, wär doch schön, wenn du auch mit dazukommen würdest … wenn du Zeit und Interesse hast. So, oder so ähnlich. Er antwortet tatsächlich. Eine Nachricht mit einem Vorschlag: Bitte buche dieses Hotel, dort können wir uns dann treffen. Echt jetzt? Weder, dass meine Kreditkarte das hergibt, noch meine … meine Ansichten über mich und meinen Körper, die ich in den letzten Wochen entwickelt habe, dass ich sexuell nicht im geringsten noch irgendwie attraktiv bin, geben das her. Ich ignoriere seine Nachricht und stecke das Telefon wieder weg. Alle Nachrichten zwischen uns werden auf beiden Geräten nach 24 Stunden wieder gelöscht (auch wenn ich ihn, meinen Langzeit-Liebhaber, eigentlich vermisse).
Es tut sich was auf der Bühne, die erste Band stimmt ihre Instrumente. Die Leute von der Party und dem Festival haben zwei Bands für diesen Abend organisiert, eine Wave-Band aus Dresden und eine Deathrock-Band aus Polen. Welche da gerade anfängt zu spielen, erkenne ich erst an der Moderation: „Hey, wir sind die aus der anderen Stadt in Sachsen …“ Ich schieb mich von meinem Barhocker und gehe ein paar Schritte nach vorne, versunken in den Rauch und den Scheinwerfern, das Publikum vor der Bühne.
Die zweite Band den Abend sehe ich nach einer kurzen Pause draußen auf dem Innenhof, wieder drinnen. Sie sind wirklich jung … als ob Deathrock und Punk niemals alt werden. Die Outfits, die Musik, das Schlagzeug, die schrammeligen Gitarren, der Gesang der Sängerin – und alles wirkt trotzdem authentisch, nie langweilig. Das ist das Schöne am Gothic und Punk – es geht immer weiter, es wird nie alt! Ich bin hingerissen, leider kann ich nicht klatschen, die Glasflasche in der einen, die Clutch in der anderen Hand. Während der Minute zwischen zwei Titeln, klemme ich die Flasche unter meiner Achsel, sie rutscht an dem Glitzerkleid vorbei und knallt auf den Boden. „Glück gehabt!“ Ich freue mich tierisch, dass sie nicht zerbrochen ist. Der Typ hinter mir, dem sie auf die Füße gefallen sein muss, verzieht keine Mine, bleibt unbeeindruckt und meint nur: „Steel caps.“ Stahlkappenstiefel, die hatte ich auch mal. Spätestens bei der Zugabe, spielt die Band ein Cover von den Misfits und es bildet sich ein Pogo-Kreis vor der Bühne, alle Punks schubsen sich gegenseitig … schubs zurück (fang sie auf), wenn sie in deine Richtung fallen.
Keine Ahnung, wie spät es geworden ist, ich krame das Smartphone nicht mehr heraus, bestimmt irgendwie nach Mitternacht. Die DJs legen die Titel auf, es wird getanzt. Ein paar Titel sind auch für mich, ich tanze mittendrin – nur leider laufen mir ein paar Leute über die Füße, die Stiefel sind eng, ich habe noch extra eine dicke Ledersohle mit Fersendämpfung und Pelotte drin (so einen Hügel, um in den hohen Pfennigabsätzen nicht bis ganz nach vorne zu rutschen). Es tut weh und ich werde dauernd angerempelt. Es ist zu voll geworden auf der Tanzfläche. Ich ziehe mich zurück. Wohin? Die eine, dunkle Ecke des Clubs, die am Notausgang neben der Bühne, die schummrig dunkle Ecke, die ich mir erkämpfen muss, neben den knutschenden Pärchen und den anderen Gästen, die etwas Abstand zu der Menschenmenge brauchen. Ein extra Chill-out-Bereich wäre jetzt nett gewesen, dass, was im Sommer oder Frühjahr (Pfingsten) draußen der Innenhof ist. Gefühlt eine längere Zeit schaue ich mir von hier aus die tanzende Menge an, tanze sogar ein oder zwei Lieblingstitel von mir alleine für mich in der Ecke. Erst als das Tempo von den DJs etwas runter genommen wird und die langsamen Sachen gespielt werden, finde ich den Mut und Weg wieder zurück auf die Tanzfläche. Jetzt zu den Achtziger-Jahre, Minimal- und Wave-Klängen fängt mein Glitzerkleid erst richtig an zu glitzern (ich werde sogar darauf angesprochen).
Drei Uhr morgens, nach zwei Mate-Brausen noch eine Flasche Wasser an der Bar holen. Drei Uhr dreißig, ich gehe wieder zurück auf die Damentoilette. Meine Tasche und meine Lederjacke habe ich von der Garderobe abgeholt. Auf der Toilette packe ich alles auf den kleinen Tisch neben der Eingangstür, hier liegen sonst immer die ganzen Flyer drauf und die leeren Bier- und Limonadenflaschen. Mein Kleid streife ich vorsichtig ab, nicht meine langen, blonden Haare in den Pailletten verfangen lassen. Dass ich danach nur in meinem schwarzen Spaghettiträgertop (das Unterhemd) und meiner Yogahose in der Toilette herumstehe und nach und nach die ganzen anderen Mädels an mir vorbeiziehen, stört mich nicht, seelenruhig wickele ich das Glitzerkleid wieder in den mitgebrachten Beutel ein und verstaue es in meiner großen Handtasche. Kapuzenpullover wieder überziehen, den Rock über die Stiefel anziehen. Er ist zu weit und rutscht immer runter, ich habe von zu Hause eine Wäscheklammer mitgebracht. Die Falte links an der Hüfte verbirgt der Pullover und meine schwarze Lederjacke. Die Buttons, Nieten und Aufnäher am Revers aufgeschlagen, Punk-Girl geht noch ein letztes Mal raus zu der großen Tanzfläche.
Vier Uhr morgens den Donnerstag, den letzten Oktobertag. Es ist nebelig, schummrig düster, aber nicht allzu kalt draußen an der Straßenbahnhaltestelle unweit des Clubs. Ich bin nicht allein, viele Party-Gäste sind auch hier. Hatte ich etwas Geld für das Taxi zurück zum Hauptbahnhof mitgenommen, sehe ich an der Anzeigentafel, dass in wenigen Minuten doch schon eine Straßenbahn kommt. Ein Ticket kaufe ich mir mit ein paar Münzen am Automaten. Die Linie 9, die kurz darauf kommt, fährt an allen Clubs, die ich in Leipzig kenne, vorbei und sammelt hier und da einige Party-Gäste auf. Es muss fast überall eine Halloween-Party gegeben haben, nicht wenige sind noch kostümiert. Mein Ausstieg ist am Hauptbahnhof, ich drücke als Erste den Knopf für den Haltewunsch (vielleicht war das aber auch auf der Hinfahrt).
Kurz nach 4:30 Uhr, der hell beleuchtete Bahnhof und die gar nicht so wenigen Menschen, es könnte auch mitten am Tag sein, nur dass die Geschäfte noch nicht offen haben. Ein Automat für das Regionalticket zurück, mein Zug steht schon auf dem Gleis, in Doppeltraktion, ich laufe bis zu dem hintersten Wagon und hoffe auf einen ruhigen Sitzplatz – und eine noch saubere Toilette.
Still setzt sich der Zug um fünf Uhr in Bewegung, letztes Mal sind mir auf dem Weg zurück nach Magdeburg einige Haltestellen entgangen, werde ich dieses Mal auch wieder einschlafen können? Ich ziehe die Kapuze hoch und räkel mich auf einen der leeren Sitzplätze. Meine Beine überkreuze ich, mein Kopf rutscht zwischen Lehne und Glasfenster. Ta-tam, ta-tam. Schienen und Weichen leise unter mir, die Sprechansagen für den nächsten Halt so weit entfernt. Als ich kurz aufwache, um meine Sitzposition zu verändern, sehe ich, dass in der Reihe vor mir und der Reihe neben mir noch zwei Fahrgäste dazugekommen sind, auch Frauen, wir sind nie allein. Den Halt in Dessau bekomme ich noch mit, die weiteren nicht.
Kurz vor Magdeburg richte ich mich wieder auf, auch wenn der Zug in Magdeburg seine Endhaltestelle erreicht hat, möchte ich wach sein. Beim Aussteigen auf den Gleis sehe ich noch die Zugbegleiterin, ihre Aufgabe ist es, zu prüfen, ob auch wirklich alle ausgestiegen sind und nicht noch irgendwo jemand um sieben Uhr früh noch auf seinem Sitzplatz schläft. Die Treppe runter und am Ausgangsportal wieder hoch, oben beim Bäcker in der Wartehalle ein Frühstückscroissant bestellen, die Kapuze von meinem schwarzen Hoodie habe ich immer noch hoch gezogen, auf der Lederjacke hängen als seitlicher Schopf meinen langen, blonden Haare heraus. Bahnhofs-Punk-Girl ist wieder unterwegs. Das tiefschwarze Augen-Make-up wische ich mir mit einem Abschminktuch im nächsten Anschlusszug ab, so wie ich das den Sommer bei der anderen, jungen, blonden Frau auf dem Sitzplatz vor mir gesehen habe, die, die auch so markant ganz in Schwarz gekleidet war.
Draußen vor den Zugfenstern kommt die Sonne heraus, erst als bläulicher Schein, dann als grauer Nebel über den Feldern und ein goldenes Licht. Als ich dann gegen acht Uhr schon wieder auf dem Fußweg zurück zu dem Familienhaus und meiner Wohnung bin, ist längst der Morgen über dem Heimatkaff angebrochen. Haustür aufschließen, Treppe hoch, Stiefel vor die Wohnung, ins Bad gehen, ins Wohnzimmer gehen, Handtasche, so wie sie ist, liegenlassen, zurück ins Bad – Make-up muss ich mir nicht mehr entfernen – nur Zähne putzen, Sachen ausziehen, ins Schlafzimmer, die Fenster zumachen, die ich eben gerade wieder aufgerissen habe, Gardinen zu und ins Bett fallen. Noch fünf Stunden schlafen bis Mittag. Ich werde niemals alt. (Ende Teil 2/2)
Kommentar:
[05.12.22 / 17:34] Daniele1992: Hallo Morgana
Mail ist heute rausgegangen
LG Daniele
[13.11.22 / 09:33] Daniele1992: Hallo Morgana
aktuell keine schöne Situation. Ich schreibe Dir noch eine Mail dazu.
LG Daniele
[13.05.22 / 09:15] Daniele1992: Hallo Morgana,
Tolle Reisebericht von Deiner neusten Reise nach Paris. Macht grosse Lust auch wieder dort hinzufahren um sich von der Stadt inspirieren zu lassen.
Tolle Neuigkeiten.NeuerJob. Klasse! Freue mich für Dich.
Liebe Grüße
Daniele
[24.12.21 / 20:55] Daniele1992: Hallo Morgana,
Ich denke an Dich und wünsche Dir frohe Weihnachten und ein schönes neues Jahr 2022.
Liebe Grüße
Daniele
[25.09.21 / 14:59] Daniele1992: Hallo,
eine Chance etwas Neues zu machen. Neue Perspektiven. Urlaubsträume, die bald real werden können. Nicht so schlecht. Freue mich für Dich. LG Daniele.
[11.11.20 / 09:12] Daniele1992: Hallo Morgana
Ich habe Dir eine Mail geschickt.
Lg
Daniele
[30.07.20 / 22:03] Daniele1992: Guten Abend
das habe ich sehr gerne gemacht. Zum Einen interessiert mich das Thema und zum Anderen hast Du wirklich sehr lebendig und spannend geschrieben. Da wollte ich Alles lesen und wollte Dir schreiben, das mir Dein Blog besonders gut gefallen hat (Die eigentliche Arbeit hattest Du ja mit dem Verfassen des Blogs). Wenn Du magst können wir den Kontakt gerne per Mail halten. Viele Grüße Daniele
[30.07.20 / 12:44] Daniele1992: Guten Morgen,
vielen Dank für Deinen tollen Blog. Ich habe ihn in den letzten Wochen komplett gelesen. Meistens konnte ich gar nicht aufhören zu lesen. Fast wie bei einem sehr spannenden Roman. Ich habe dabei Deine genauen Beobachtungen und Beschreibungen sehr genossen. Deine vielen Ausflüge in die Clubs und zu den Festivals oder Deine Streifzüge d durch die Geschäfte beschreibst Du immer aus Deiner Sicht sehr anschaulich und spannend. Ich kann das sehr gut nachvollziehen, das alleine zu erleben, häufig auch mit einer gewissen Distanz. Ich kenne ich von mir sehr gut. Highlights sind Deine Reiseberichte. Deine Erlebnisse an den unterschiedlichsten Orten auf der Welt. Vielen Dank dafür. Vielen Dank auch das Du Deinen Weg zu Deinem waren Geschlecht mit uns Lesern teilst. Deinen Weg Deine Gefühle Deine zeitweisen Zweifel. Das ist sehr wertvoll auch für uns Andere, denn es ist authentisch und sehr selten. Du bist einem dadurch sehr vertraut geworden. Für mich ist eine gefühlte grosse Nähe dadurch entstanden. Umso mehr schmerzt es mich von Deinen Rückschlägen zu lesen. Von Deinem Kampf zu Deinem wahren Ich. Von Deinem Kampf umd Liebe, Zährlichkeit und Akzepzanz und Anerkenung. Von Deiem mitunter verzweifeltem Kampf nach Liebe und Anerkennung durch Deinen Exfreund. Leider vergeblich. Dein Kampf um wirtschaftliche Unabhängigkeit und Deine aktuell missliche Lage. Ich glaube dass Du nicht gescheitert bist. Du hast viel Mumm und Hardnäckigkeit bewiesen Deinen Gang zu Dir selbst zu gehen. Du hast auch einen guten Beruf der immer noch sehr gefragt ist. Vielleicht kann ja nach dieser Auszeit und etwas Abstand ein Neuanfang in einer anderen Firma, wo Du keine Vergangenheit als Mann hattest gelingen. Ich wünsche das Dir ein Neuanfang gelingt und drücke Dir ganz fest die Daumen. Daniele
[05.10.19 / 17:11] Drea Doria: Meine liebe Morgana,
bin 5 T post all-in-one-FzF-OP. Deine guten Wünsche haben geholfen. Der Koch ist immernoch noch super. Alle hier sind herzlich und nehmen sich Zeit.
Herzlich
Drea
[14.06.19 / 12:57] Drea Doria: Meine liebe Morgana,
vielen Dank für Deine offenen und kritischen Erlebnisberichte. Ich bin in 3 Monaten in Sanssouci zur FzF-OP. Ich denke auch, was kann schon schief gehen, status quo geht nicht und irgendwas besseres wird wohl resultieren. Wenn es Dich interessiert, halte ich Dich informiert. Drücke mir die Daumen.
Herzlich
Drea
[14.11.17 / 20:13] Morgana LaGoth: Nutzungsbedingungen für die Kommentarfunktion: Die Seitenbetreiberin behält sich das Recht vor, jeden Kommentar, dessen Inhalt rassistisch, sexistisch, homophob, transphob, ausländerfeindlich oder sonstwie gegen eine Minderheit beleidigend und diskriminierend ist, zu zensieren, zu kürzen, zu löschen oder gar nicht erst freizuschalten. Werbung und Spam (sofern die Seitenbetreiberin dafür nicht empfänglich ist) wird nicht toleriert. Personenbezogene Daten (Anschrift, Telefonnummer) werden vor der Veröffentlichung unkenntlich gemacht.
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